Tilman Baumgaertel on Fri, 28 Jan 2000 12:12:19 +0100 (CET)


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[rohrpost] Nochmal etoy: ein Interview am Tag danach....


von: 
http://www.BerlinOnline.de/aktuelles/berliner_zeitung/.html/5artik69.html 
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Als würde Shell das Öl ausgehen

etoy sind Netzkünstler, eToys sind Internet-Geschäftsleute. Vor Gericht
trafen sie sich zum ersten Mal

Es war ein Präzedenzfall für das Internet: Der amerikanische
Spielzeugversand eToys hatte im vergangenen Jahr die europäische
Künstlergruppe etoy verklagt. Jetzt haben sich die beiden Parteien
außergerichtlich geeinigt: Etoy bekommt die Internet-Adresse zurück, die
monatelang gesperrt war.

In den letzten Wochen hatten Netzaktivisten auf der ganzen Welt gegen das
Verfahren protestiert, die Angestellten von eToy mit E-mails bombardiert,
und sogar
versucht, den Server der Firma zu hacken. Die schlechte Presse für eToys
führte dazu, dass der Aktienkurs des Unternehmens von über 60 Dollar im
November 1999 auf unter 20 Dollar am Mittwoch sank.

Für etoy ist die Webadresse ein wichtiger Bestandteil ihrer Kunst, den sie
auch für knapp eine halbe Million Dollar nicht an den amerikanischen
Konzern verkaufen wollte. Die Mitglieder der Gruppe, die in der
Öffentlichkeit mit kahlen Köpfen, verspiegelten Sonnenbrillen und orangen
Uniformen auftreten, wollen ihre wahren Namen nicht nennen. Mit "Agent
Gramazio" sprach Tilman Baumgärtel.


?: Das Verfahren, das eToys gegen Sie angestrengt hat, hat für viel
Aufsehen gesorgt. Nicht nur, dass etoy aus der Netzkunstszene viel
Unterstützung erfahren hat, über den Fall ist sogar bei CNN, in der "New
York Times" und in der Börsenpresse ausführlich berichtet worden. Wie ist
Ihr Resumee, nachdem Sie ein Verfahren gegen ein großes
Internet-Unternehmen gewonnen haben?

!: Wir sind Medienkünstler, die mit Informationsviren arbeiten. Dieser Fall
war für uns darum das perfekte Betätigungsfeld. Wir haben in dieses
Verfahren all die Themen reinpacken können, mit denen wir auch schon vorher
gearbeitet haben. Eigentlich hätte man sich kein schöneres Bild ausmalen
können. eToys sind, wie wir auch, ein Zero-Gravity-Unternehmen...

?: Ein was?

!: Die bestehen im Grunde nur aus einer Website, und darin gleichen sie
uns. Wir sind eigentlich nur ein Name. Und auch eToys hat nur einen
Business-Namen, eine Börsen-Kapitalisierung und diese Website. Alles
andere, zum Beispiel die Auslieferung, wird von anderen Unternehmen
gemacht. Die haben nichts, nicht mal eine Immobilie, denn sie bestehen nur
aus Geld, oder besser gesagt: aus versprochenem Geld. Und das ist das neue
Geschäftsmodell schlechthin. Dadurch ist so ein Unternehmen natürlich sehr
angreifbar. Wenn sich so eine Firma ihren Namen im Internet nicht sichert -
das ist fast so, als würde Shell das Öl ausgehen...

?: Das klingt so, als würden Sie sich eToys recht nahe fühlen. Und in der
Tat treten Sie selbst ja wie ein Unternehmen auf: Sie haben eine "Corporate
Identity", Sie haben Ihren Namen als Marke angemeldet und verkaufen sogar
eigene "Kunstaktien"...

!: Klar, wir verstehen sie ganz gut, aber sie haben uns nie verstanden.
eToys ist ein Riesen-Unternehmen, in dem Milliarden stecken. Gleichzeitig
müssen sie auf Gaudi und lustig machen, um ihr Spielzeug zu verkaufen. Sie
stellen sich als die tollen, kreativen Jungs aus Kalifornien dar - fast wie
Künstler. Eigentlich sind wir die Künstler, aber jetzt können wir als
knallhartes Unternehmen auftreten, das die anderen in den Boden rammt. Das
sind Aufweichungen, die sehr spannend sind, weil die Kategorien Kunst und
Geschäft verwischt werden.

?: Das ist Netzkünstlern ja oft vorgeworfen worden: Sie würden nur ein
bekanntes Kunstkonzept aus den 80er-Jahren aufwärmen, wenn sie im Internet
so auftreten, als seien sie eine Firma oder eine andere Institution.

!: Das denke ich nicht. In den 80er- Jahren war so was nur ein Spiel. Jetzt
zeigt sich die Realität. Die Grenze zwischen realen Unternehmen und solchen
"Kunst-Unternehmen" verwischt sich total. Wir haben uns eine wirkliche
Machtprobe mit eToys geliefert - und gewonnen.

?: Kann man sagen, dass eToys auf ihre künstlerische Methode hereingefallen
sind?

!: Ja, und dabei hätte ich von eToys mehr erwartet. Ich dachte, dass sie
das Internet besser kennen. Aber sie haben es geschafft, die ganze
Netz-Community gegen sich aufzubringen.

Die haben nicht verstanden, dass das Internet keine reine Shopping Mall
ist. Es ist auch keine grosse Wüste, wo man Öl pumpen geht und die Indianer
abknallt, die einem
dabei im Weg sind. Das Verfahren hat gezeigt, dass die verantwortlichen
Leute bei eToys das Internet nicht verstehen. Das ist eigentlich der größte
Schaden, den sie genommen haben.

?: Gleichzeitig haben ihre Aktien an der Börse stark an Wert verloren.
Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem Kursverlust von eToys und dem
Verfahren gegen etoy?

!: Das ist schwer zu sagen. Diese ganzen Börsengeschichten sind eine
psychologische Angelegenheit. Inzwischen ist die Aktie von eToys unter den
Nominalwert gesunken, waswirklich tragisch ist. Gut hat das Verfahren ihrem
Kurs sicher nicht getan.

Gleichzeitig hat jeden dritten Tag in wichtigen Zeitungen wie der
"Washington Post", der "New York Times" und in Finanzzeitungen was
gestanden. Wenn die Anleger merken, dass da etwas nicht ganz klar ist und
dass dieses Etwas der Name ist, dann verkaufen sie. Und je mehr Leute
verkaufen, desto mehr breitet sich die Panik heraus. Ich kann das
eigentlich nur so erklären, dass sie jetzt so tief gefallen sind.

?: Betrachten Sie Ihre Aktivitäten in diesem Verfahren als Kunst?

!: Unsere Kunst hat in den letzten Monaten im Gerichtssaal und in den
Zeitungen stattgefunden. Ich glaube, dass wir durch solche Sachen aus dem
Kunst-Ghetto ausgebrochen sind. Das war auch der Grund, warum wir in dieses
Wahnsinnsunternehmen eingestiegen sind. eToys hatte uns 400 000 Dollar für
unsere Internetadresse angeboten. Fast alle unsere Freunde haben damals
gesagt, wir sollten das Geld nehmen und aufhören.

Man dachte, dass wir sonst Hunderttausende von Dollars für das Verfahren
zusammenpumpen müssten und dann irgendwann im Hinterhof zusammengeknüppelt
werden,
weil das in Amerika eben so läuft. Aber wir haben trotzdem weitergemacht,
weil es für uns eine Gelegenheit war, den Kunstbegriff zu erweitern. Und
zwar auf eine Art,
die jeder versteht.

?: Ist es für Sie wichtig, dass Ihre Arbeit allgemein verständlich ist?

!: Ja. Kunst muss einen Impact auf die Gesellschaft haben. Kunst muss sich
mit den wichtigsten Themen ihrer Zeit konfrontieren. Wir beschäftigen uns
mit Aktien, mit der Börse und mit Big Corporations, weil das zurzeit das
relevanteste Thema ist - vielleicht noch nicht in Europa, aber in Amerika
schon.

In den USA zeigen sie in der TV-Werbung, wie alte Leute im Internet mit
Aktien handeln. Da sieht man, wie ein ganzes Gesellschaftssystem
funktioniert oder funktionieren will. Das sind die Themen, von denen es
abhängt, ob die Leute später eine Rente haben oder ob die ganze Wirtschaft
zusammenbricht.

                                                   Artikel vom 28. Januar
2000 
...................
I think, 
and then I sink
into the paper 
like I was ink.
Eric B. & Raakim: Paid in full

Dr. Tilman Baumgaertel, email: tilman@thing.de
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