Tilman Baumgaertel on Tue, 28 Mar 2000 21:08:59 +0200 (CEST)


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[rohrpost] Ein Bildungsroman fuer Roboter


from: 
http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/kino/5943/1.html


Ein Bildungsroman für Roboter 

Sehr seltsam und sehr fremd: "Der 200 Jahre Mann" ist ein unterschätzer
Film über das Ende des Menschen: er fordert die buergerlichen Rechte für
Androiden. Und das in einem Hollywood-Film für Kinder!


Über den Film "Der 200 Jahre Mann" (http://www.200-jahre-mann.de) war in
der deutschen Presse bisher wenig zu lesen, und wenn, dann nichts
Freundliches. Das dürfte nicht zuletzt an Hauptdarsteller Robin Williams
liegen, der in diesem Film einen Roboter spielt, welcher über einen
Zeitraum von 200 Jahren langsam zu Menschen wird. Williams ist fast zum
Synonym für unerträgliche amerikanische Klamotten geworden, auf das die
meisten Filmkritiker inzwischen mit verständlichen Abwehrreflexen reagieren
(und in der Tat läßt bereits das Filmplakat, das Williams mit seinem
Roboter-Alter Ego in "Two thumbs up"-Pose zeigt, wenig Gutes vermuten).
Auch dass Regisseur Chris Columbus für Filme wie "Kevin - allein zuhause"
und "Mrs. Doubtfire" (ebenfalls mit Robin Williams) verantwortlich ist,
macht den Film wohl kaum weniger verdächtig. 

Die wenigen, kurzen Besprechungen betonen darum die rührselige Atmosphäre
und den etwas albernen, familienfreundlichen Humor des Films, um
gleichzeitig seinen Mangel an Tiefe herzuheben. In der taz kritisierte der
deutsche Splatter-Regisseur Jörg Buttgereit, der immerhin vage die
Bedeutung des Stoffs zu erfassen schien, dass der Filme "das Potential
eines Dramas von frankensteinschen Ausmaßen" verschenke. 

Dabei ist das Erstaunliche an "Der 200 Jahre Mann" gerade, dass es im Jahr
2000 offenbar möglich ist, einen Film über ein künstliches Lebewesen zu
drehen, das Sehnsucht nach menschlichen Eigenschaften hat, ohne dass das
ganze zu einem "Drama von frankensteinischen Ausmaßen" ausartet, sondern
Stoff für einen Kinderfilm liefert. Das soll nicht heissen, dass "Der 200
Jahre Mann" nicht trotzdem ein rührseliger und milde alberner Film ist.
Aber ihm Flachheit und eine öde Story zu bescheinigen, wird dieser epischen
Filmfabel nicht gerecht. "Der 200 Jahre Mann" ist ein unterschätzer Film,
der eine Aussage über die Möglichkeiten vom Zusammenleben mit künstlichem
(durch Bioengeneering oder Gentechnik erzeugten) Leben in einen
Familienfilm schmuggelt, die ausserordentlich beunruhigend ist, wenn man
sie denn erstmal ernst nimmt. 

Der Film erzählt von einem Roboter (Robin Williams), der in einer Zeit "in
nicht allzuferner Zukunft" als "Haushaltsgegenstand" in eine Familie kommt,
um die üblichen Roboter-Aufgaben zu übernehmen: Waschen, Abspülen, Kochen,
Saubermachen, Kinderunterhalten. Doch schon bald zeigt sich, dass NDR
(sprich: Andrew) 114 auch Kreativität besitzt und Liebe zur Schönheit
empfindet - offenbar auf Grund eines Fertigungsfehlers, der allerdings
nicht so richtig erklärt wird. Er rettet Insekten vor dem Tod und beginnt,
zu schnitzen und Uhren zu bauen, bis der Familienvater (Sam Neill)
schliesslich erklärt: "Though Andrew is technically a piece of property, he
shall be treated as if he is a person", und Robo-Robin den
Familiennachnamen Martin anbietet. Während Andrew durch seine
Schnitzarbeiten langsam zum reichen Mann wird, sterben die
Familienmitglieder nach und nach, gleichzeitig lernt das Gerät, seine
mechanischen Defizite zu eliminieren. 

Interessanterweise spielt in diesem Zusammenhang eine Reise quer durch die
USA eine wichtige Rolle, so wie im klassischen Bildungsroman auch Reisen
auf der Suche nach sich selbst ein immer wieder kehrendes Motiv sind. Der
Selbstfindungstrip (in diesem Fall im wahrsten Sinne des Wortes, denn
Andrew sucht nach anderen Robotern aus seiner Baureihe) führt ihn nicht nur
vom Hort der Zivilisation, der Stadt, in eine Wildnis aus Eis und Schnee,
sondern zuletzt sogar in das aus den Western von John Ford bekannte
Monument Valley, einen Ort, an dem traditionellerweise Kinoschlachten um
Zivilisation und Selbsterfahrung ausgefochten werden. "Der 200 Jahre Mann"
ist ein Bildungsroman für Roboter, und Andrew wird immer wieder an Orten
der Selbstfindung gezeigt: im Garten, in der Wüste, am Strand, wo er sein
kleines, an Frank Lloyd Wright erinnerndes Haus baut.

In San Francisco entdeckt er schließlich einen Robo-Antiquitätenhändler
(100 Jahre nach Beginn des Films sind Roboter schon zur historischen
Reliquie geworden), der ihm den lange ersehnten menschlichen Körper für
sein Elektronengehirn baut. Die Szenen, die in der Werkstatt des
Roboter-Konstrukteurs Rupert (Oliver Platt) spielen, würden in jedem
anderen Film den Anfang von einem grauenvollen Ende einläuten: nicht nur,
dass Rupert den Kopf seines verstorbenen Vaters a la "The brain that
wouldn't die" unter einer Glasglocke zur Re-Animation frisch hält. Auch die
Szenen, in denen Andrew langsam zum Menschen umgebaut (oder bei geöffnetem
Torso und vollem Bewußtsein umoperiert) wird, sind eigentlich klassisches
Splatter-Material. Da hängt das neu entwickelte zentrale Nervensystem und
andere Innereien von der Decke, und selbst Andrew erschrickt vor seinem
Spiegelbild, als er zum erstmal den Totenschädel aus Metall unter seiner
Chassis sieht.

Aber hier herrscht kein Grauen: Es ist alles zwar noch ein bisschen dunkel,
aber keine Kerzen-erleuchtetes, unterirdisches Horrorlabors eines
verrückten Dr. Seltsams mit osteuropäischen Vorfahren, sondern ein modernes
Labor. Kein buckeliger Igor schleppt weitere Leichenteile vom
mitternächtlichen Friedhof herbei, stattdessen kommen Fleisch und Haut, die
Andrews künstliche Organe überziehen, aus einer Sprühdüse wie aus einer Art
elektronischen (oder genetischen?) Airbrush-Dose. 

Um das Mass an Kino-geschichtlichen Tabubrüchen voll zu machen, zieht der
Hightech-Mensch gewordene Andrew mit der Enkelin Portia seiner einzigen
Besitzer zusammen. Auch hier wäre noch einmal die Möglichkeit zu einem
ödipalen Konflikt mit Todesfolgen gegeben gewesen, aber nein: Andrew
beantragt sogar noch vor einem "World Legislature", einer Art
Weltregierung, die Menschenrechte, um seine Geliebte endlich heiraten zu
können. Als ihm die "volle Menschlichkeit" verweigert wird, weil er aus
nicht-organischen Material besteht, weist er den Vorsitzenden der
Versammlung auf dessen Herzschrittmacher hin! Kraftwerks "Wir sind die
Roboter" nimmt so eine ganz neue Bedeutung an. 

Wo "es" war, soll "ich" werden: Andrew, der als Roboter von sich selbst nur
als "man" sprach ("One is glad to be of use."), hat gelernt, sich selbst
"ich" zu nennen. Und sein juristischer Kampf um die Menschenrechte erinnert
an die Grundsatzurteile, die gerade in den USA Angehörige von "rassischen"
oder sexuellen Minderheiten (wie Schwule oder Transsexuelle) vor Gericht
erfochten haben. 

"Der Tod des Subjekts", "das Ende des Menschen" - in "Der 200 Jahre Mann"
werden solche philosophischen Schlagwörter aus der post-strukturalistischen
Debatte der 80er und 90er Jahren zu einer Kinofabel, die erzählt wie der
"Mensch", wie wir ihn gekannt haben, verschwindet, wie ein Gesicht, das in
den Sand am Strand gezeichnet wurde - wenn auch nicht durch die Wellen, die
über ihn hinweg spülen, sondern durch Technologien, die zur Zeit die
"Fantasie" von Börsianern beflügeln und die Kurse von Biotechnologie-Firmen
durch die Decke treiben. 

Die Filmgeschichte ist voll von Menschen-gemachten Leben, dass sich gegen
seinen Schöpfern wendet und sie für ihre Hybris, Gott spielen zu wollen,
mit dem Tod bestrafen: der Golem, das Monster von Frankenstein, die "Maria"
in "Metropolis", Alraune, Mr. Hyde, der amoklaufende Cyborg in "Westworld",
die Guerilla-Androiden in "Blade Runner", der Re-Animator, Tetsuo the Body
Hammer - sie alle sind sind Variationen über das Thema vom Grauen, das aus
der menschlichen Anmassung erwächst, Leben anders als durch "natürliche"
Geburt in die Welt zu bringen. 

Das Thema vom künstlichen Leben ist aus gutem Grund ein Dauerthema des
Kinos: denn auch das Kino ist ein "moderner Prometheus", wie es der
Untertitel von Mary Shelleys Frankenstein-Roman nennt. Es hat seit seinen
Anfängen "künstliche Menschen" geschaffen, und so unseren Horror vor
unseren filmischen Doppelgängern in Bilder gefasst. Zu Beginn des Kinos
waren alle Darsteller auf dem Silver Screen "künstliche Menschen":
befremdliche, antropomorphe, aber eigentliche tote Kreaturen, die durch die
Magie einer neuen Technologie wieder zum Leben erweckt wurden - bloss eben
nicht durch die Chemikalien und Apparaturen in den Labors wahnsinniger
Wissenschaftler und irrer Erfinder, sondern auf Zelluloid, das durch den
Projektor schleicht wie ein Monster durch die Gänge eines geheimnisvollen,
unterirdischen Laboratoriums. 

"Der 200 Jahre Mann" ist wahrscheinlich der erste Film, der dem Thema vom
künstlichen Menschen ausschliesslich positiven Aspekt abgewinnt, und dem
Monster gestattet, zum Menschen zu werden, ohne dass sein Schöpfer dafür
bestraft wird. Schon in Karl Capeks berühmten  Roman "R.U.R.", aus dem das
Wort Roboter stammt, richten sich die neu geschaffenen, maschinellen
Arbeitssklaven schließlich gegen die Menschen, die sie gebaut haben. Seit
den drei Roboter-Regeln, die Isaac Asimovs 1950 in seinem Buch "I, Robot"
formuliert, sind ihnen klare Grenzen gesetzt: "1. A robot may not injure a
human being or, through inaction, allow a human being to come to harm. 2. A
robot must obey the orders given it by human beings except where such
orders would conflict with the First Law. 3. A robot must protect its own
existence aslong as such protection does not conflict with the First or
Second Law." (Von Isaac Asimov stammt übrigens auch die Kurzgeschichte auf
die der Film beruht, obwohl er die Vorlage auf bemerkenswerte Weise
erweitert: die Liebesgeschichte mit Portia kommt in der Kurzgeschichte zum
Beispiel nicht vor!)

Seither sind Roboter in Science Fiction Roman und im Kino dienstbare
Geister, denen zwar liebenswerte Macken erlaubt sind, aber wahre
Menschlichkeit versagt ist. R2-D2 und C-2PO in "Star Wars" oder Robbi aus
"Robbi, Tobbi und das Fliwatüt" sind zwar ulkige Kerlchen, aber Humanität
und die damit verbundene Sterblichkeit, Liebe oder Sexualität sind ihnen
nicht zugedacht. Geradezu bedrohlich wirkt im Vergleich damit Andrew (der
übrigens im ganzen Film trotz allem nicht gegen Asimovs Regeln verstösst):
Er findet nicht nur eine menschliche Frau, sondern befriedigt diese sogar
bis ins hohe Alter sexuell besser als ein Mann aus Fleisch und Blut das
könnte, wie eine in einer Reihe von seltsam obszönen Szenen im Film andeutet. 

Überhaupt ist es interessant, einige Szenen des Films mit klassischen
Situationen aus dem Horror- und Science-Fiction-Kino zu vergleichen: in
James Whales "Frankenstein" will das Monster mit einem kleinen Mädchen
spielen, was damit endet, dass er seine Spielgefährtin in einen See wirft,
in dem sie ertrinkt. In "Der 200 Jahre Mann" gibt es eine Stelle, in der
diese schreckliche Szene umgekehrt wird: die Tochter der Familie, der
Andrew gehört, befiehlt dem Roboter aus dem Fenster zu springen - was der
ohne Widerspruch tut (Roboter-Regel Nr. 1!), und seiner Figur so von Anfang
an den promethischen Horror nimmt, obwohl er sich danach erst einmal durch
sein "Self-Maintainance"-Programm reparieren muss (Roboter-Regel 2 und 3!). 

Überhaupt, der "Körper" des Roboters: als er das erste Mal ausgepackt wird,
gemahnen seine noch unbelebten Züge kurz an den fürchterlichen "Golem" aus
Paul Wegners klassischen deutschen Stummfilm. Doch als er erstmal
eingeschaltet ist, erinnert sein Metallkörper mit der pfeifenden Hydraulik
an "Robocop", allerdings mit einem Schuss Art Deco. Er hat eine
Computer-Vision wie der Terminator oder der Predator. Doch er ist keine
todbringende Maschine, sondern eher eine Art mechanischer Parzival auf der
Suche nach Individualisierung und Selbsterkenntnis. Und Techno-Design-mäßig
ist er auch weiter: wenn er sich an der Steckdose selbst wieder auflädt,
offenbart er eine Reihe von transparenten Gestaltungselemente, die an die
neuen Macintosh-Computer erinnern. 

Dass "Der 200 Jahre Mann" mit diesem Plot bei einem Major-Studio wie
Touchstone durchgekommen ist, liegt an zwei dramaturgischen Kunstgriffen:
erstens hat Andrew keinen Schöpfer, gegen den er sich auflehnen kann; sein
Konstrukteur bei der Roboter-Firma NorthTech hält ihn für eine fehlerhafte
Fabrikation und möchte ihn am liebsten reparieren, dessen Sohn macht Andrew
schliesslich zum Menschen. Zweitens schliesst er clever das Roboter-Thema
mit einem uramerikanischen Filmsujet kurz: die schwere und an Entbehrungen
reiche Suche nach dem Selbst, nach Selbstverwirklichung, nach Glück.
"Complete your destiny", "I am creating my own destiny" - Sätze wie diese
kommen in "Der 200 Jahre Mann" immer wieder vor, vielleicht kein Zufall im
Film eines Regisseurs, der Chris Columbus heisst.

Weil diese Idee von Selbstfindung das Thema von fast jedem amerikanischen
Film ist, ist es signifikant, dass die Story, auf der "Der 200 Jahre Mann"
basiert, von Isaac Asimov für eine SF-Anthologie geschrieben wurde, die
1976 zu den 200-Jahre-Feierlichkeiten der USA erscheinen sollte. Und
witzigerwiese loben die meist amerikanischen  Internetuser, die auf den
Webpages des Internet Movie Databank ihre Meinung posten, wenn sie
überhaupt etwas loben, gerade das: "an allegory of the search for a soul",
"a technological saga of love and freedom", "a quest for self-improvement". 

Die Suche nach einer Seele, Liebe, Freiheit, Self-improvement für einen
Roboter - das sind Ideen, die in einem Kinderfilm aus dem Jahr 2000
thematisiert werden können. Man blickt nach "Der 200 Jahre Mann" erstaunt
auf eine Gegenwart, in der solche Fragen in einem
Sonntagnachmittag-Mainstreamfilm gestellt werden können. Auf eine
Gegenwart, die einem plötzlich sehr seltsam und sehr fremd vorkommt.


"Bicenntanial Man", mit Robin Williams, Sam Neill, Wendy Crewson, Embeth
Davidtz Rupert Burns, Oliver Platt, Hallie Kate Eisenberg, 131 Minuten 
Regie: Chris Columbus, Drehbuch: Nicholas Kazan (nach 'The Positronic Man"
von Isaac Asimov), Kamera: Phil Meheux, Musik: James Horner, Produzenten:
Laurence Mark, Wolfgang Petersen, Gail Katz, Schnitt: Nicolas De Toth




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