Florian Cramer on Sat, 29 Apr 2000 20:35:51 +0200 (CEST)


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[rohrpost] Reinhard Döhl, Vom Computertext zur Netzkunst [1/2]


Anmerkung: Mit diesem Vortrag wurde die Ausstellung "Liter@tur:
Computer/Literatur/Internet" <http://www.netlit.de> eröffnet, siehe meinen
Beitrag zuvor. Ich halte ihn jetzt schon für einen Standardtext (ganz im
Gegensatz übrigens zu den Aufsätzen von Stefan Porombka und Hilmar Schmundt
zu Netzliteratur bzw. Freier Software in der aktuellen Ausgabe der "Neuen
Rundschau").

Ich habe den Text von HTML nach ASCII/ISO-Latin1 konvertiert. Das
Originaldokument liegt hier:
<http://www.uni-stuttgart.de/ndl1/computertext_netzkunst.htm>
-FC

* * *

   Reinhard Döhl
   Vom Computertext zur Netzkunst. Vom Bleisatz zum Hypertext
   
   Der klug formulierte Titel des Karlsruher Unternehmens, "Liter@tur.
   Computer / Literatur / Internet", stellt die Literatur zwischen den
   Computer auf der einen und das Internet auf der anderen Seite,
   zwischen Aufschreibsystem und -mittel und Erscheinungsform. Und er
   schreibt das a in Literatur als @ [ÿiter@tur]. Was schon optisch die
   Frage provoziert, ob wir es hier mit einer Literatur zwischen der
   Skylla Computer und der Charybdis Internet zu tun haben oder ob es
   sich bei einer mit dem Computer für das Netz geschriebenen Liter@tur
   um eine neue, eine @ndere Literatur handelt.
   
   Wobei ich als Konsens unterstelle, daß die Literatur sich nicht nur
   der Medien bedient, sondern die Medien auch die Erscheinungsformen der
   Literatur bedingen. Niemand wird ernsthaft Wechselwirkungen zwischen
   literarischer, allgemein künstlerischer Hervorbringung und den
   gewählten Aufschreibsystemen bezweifeln, in Frage stellen wollen, daß
   die kulturgeschichtlich gewichtigen Schritte von der Mündlichkeit zur
   Schriftlichkeit, von individueller zu mechanisch vervielfältigter
   Schriftlichkeit durch Erfindung des Buchdrucks, und schließlich, mit
   Beginn des letzten Jahrhunderts, von der Schriftlichkeit zu
   elektronischer Herstellung und Verbreitung Veränderungen für die
   Literatur (wie allgemein die Künste) zur Folge hatten: durch den
   Rundfunk zum Beispiele zu einer neuen Mündlichkeit, durch den Computer
   zu einer neuen Schriftlichkeit, die noch das Bild mit einschließt.
   
   Aleatorische Kunst
   
   Dabei unterscheide ich zunächst zwischen zwei Textsorten:
     * Dem improvisierten automatischen Text bei dem die traditionelle
       Vorstellung, der Dichter schreibe aus einer inneren Schau, aus
       Inspiration, aus dem Un- und Unterbewußten (göttlicher) Eingebung
       - zur Methode wird. Der Text wird quasi anonym und
       automatisch/unabsichtlich niedergeschrieben, etwa in frei
       improvisierten automatischen Texten (ÿcriture automatique),
       Zufallscollagen von Buchstaben, Worten, Sätzen oder ganzen
       Textpassagen.
     * Beim maschinell (oder analog) erzeugten Text wird die Forderung,
       ein Text müsse sich lehrbaren und nachvollziehbaren poetologischen
       Gesetzen fügen, werden traditionelle Verfahren des Schreibens
       ersetzt durch maschinell-kombinatorische Textgenerierung. Würfel-,
       Zufalls- und Computertexte - sogenannte stochastische Texte - sind
       hierher zu rechnen, ebenso aber auch von Autoren nach den strengen
       formalen Regeln erzeugte Texte.
       
   Die Geschichte des zufällig gefügten Textes weist Traditionslinien auf
   bis zurück in den Manierismus und den Barock, wo er z.B. in Georg
   Philipp Harsdörffers "Frauen-Zimmer Gesprech-Spiel[en]" (1641-49) beim
   "Wörterzuwurf" gesellschaftliches Spiel ist, ebenso im 18./19.
   Jahrhundert, in dem die Aleatorik an Bedeutung gewinnt, ich nenne als
   ein Beispiel "Neunhundert neun und neunzig und noch etliche
   Almanachs-Lustspiele durch den Würfel. Das ist: Almanach dramatischer
   Spiele für die Jahre 1829 bis 1961 [sic]. Ein Noth- und Hülfs-Büchlein
   für alle stehenden, gehenden und verwehenden Bühnen so wie für alle
   Liebhabertheater und Theaterliebhaber Deutschlands. Von Simplicius der
   freien Künste Magister".
   
   Satirisch auf Wissenschafts-Rationalismus des 18. Jahrhunderts zielt
   Jonathan Swift in der Beschreibung einer Maschine, die mit ihrer
   zufälligen Textproduktion die spekulativen Wissenschaften durch
   praktische und mechanische Operationen [...] verbessern soll
   ("Gullivers Reisen" III, 5; 1726). Gulliver erhält auf seiner dritten
   Reise die Erlaubnis, die große Akademie der Hauptstadt Lagado zu
   besichtigen.
   
   Der erste Professor [...] führte mich an einen Rahmen, wo alle seine
   Schüler in Reihen aufgestellt waren. Der Rahmen war zwanzig Quadratfuß
   groß und befand sich in der Mitte des Zimmers. Die Oberfläche bestand
   aus einzelnen Holzstücken von der Dicke eines Würfels, von denen
   jedoch einzelne größer als andere waren. Sie waren sämtlich durch
   dünne Drähte miteinander verknüpft. Diese Holzstücke waren an jeder
   Fläche mit überklebtem Papier bedeckt, und auf diesen Papieren waren
   alle Worte der Landessprache, und zwar in den verschiedenen Modis, in
   Konjugationen und Deklinationen, jedoch ohne alle Ordnung
   aufgeschrieben: Der Professor bat mich achtzugeben, da er nun seine
   Maschine in Bewegung setzen wolle. Jeder Zögling nahm auf seinen
   Befehl einen eisernen Griffel zur Hand, von denen vierzig am Rande des
   Rahmens befestigt waren. Durch eine plötzliche Umdrehung wurde dann
   die ganze Anordnung der Wörter verändert. Alsdann befahl er
   sechsunddreißig der jungen Leute, die verschiedenen Zeilen langsam zu
   lesen, und wann sie drei oder vier Wörter ausgefunden hatten, die
   einen Satz bilden konnten, diktierten sie dieselben den vier anderen,
   welche sie niederschrieben. [...]
   Der Professor zeigte mir mehrere Folianten, welche auf diese Weise mit
   Bruchstücken von Sätzen gefüllt waren und die er zusammenstellen
   wollte. Aus diesem reichen Material werde er der Welt ein
   vollständiges System aller Wissenschaften und Künste geben, ein
   Verfahren, das er jedoch verbessern und schneller beendigen könne,
   wenn das Publikum ein Kapital zusammenbringen wolle, um fünfhundert
   solcher Rahmen in Lagado zu errichten, und wenn man die Unternehmer
   veranlassen würde, die verschiedenen Sammlungen zu einer gemeinsamen
   zu vereinigen.
   
   Das liest sich auch heute noch nicht ohne Ironie,
     * einmal wegen des unverhohlenen Buhlens um Sponsorengelder,
     * zum anderen, wenn man an das für die Internetdiskussion
       folgenreiche, freilich für mechanische Lesegeräte konzipierte
       Memex-Projekt Vannevar Bush's denkt, ich komme darauf noch einmal
       zu sprechen,
     * zum dritten, wenn man den Namen einer der größten Suchmaschinen,
       "Yahoo", als Anspielung auf Jonathan Swifts "Travels into Several
       Remote Nations of the World" erkennt, direkt auf die
       menschenähnlichen Diener der Houyhnhnms im 4. Buch, der "Reise in
       das Land der Houyhnhnms" bezieht, indirekt aber auch auf jene
       textherstellende Maschine an der großen Akademie von Lagado, die
       uns in den 60er Jahren eine spielerisch ironische Vorwegnahme des
       textverarbeitenden Computers schien.
       
   Die Stuttgarter Gruppe/Schule
   
   Wenn ich mich im Folgenden vor allem auf Stuttgart konzentriere,
   geschieht dies
     * weil für die Stuttgarter Gruppe / Schule um Max Bense sehr früh
       bereits - im Rahmen ihres Interesses an experimenteller Literatur
       - das Produzieren und eine Theorie stochastischer Texte und
       Computergrafik eine Rolle gespielt haben,
     * weil wir in Stuttgart seit einiger Zeit in dieser Tradition auch
       mit offenen Internet-Projekten experimentieren und weil
     * die Stadtbücherei Stuttgart im Rahmen ihrer Neuinszenierung einen
       "futuristischen leses@lon" eingerichtet hat, in dem, neben der
       traditionellen Lektüre und Ausleihe von Büchern, der Benutzer
       jederzeit im Internet surfen und/oder sich in die für ihn dort
       bereitgestellte Literatur des Internets vertiefen kann.
       
   Ein Charakteristikum der in soziologischen Verständnis offenen
   Stuttgarter Gruppe/Schule war sehr früh bereits ihr Interesse an einer
   Verbindung von künstlerischer Produktion mit neuen Medien und
   Aufschreibsystemen. Bereits im Oktober/Dezemberheft 1959 der
   "Zeitschrift für Tendenz und Experiment", "augenblick",
   veröffentlichte der Mathematiker Theo Lutz einen Aufsatz über mit
   Hilfe der Großrechenanlage ZUSE Z 22 im Rechenzentrum der Stuttgarter
   damals noch Technischen Hochschule geschriebene "Stochastische Texte",
   in dem er referierte, daß die ursprünglich [...] für die Bedürfnisse
   der praktischen Mathematik und der rechnenden Technik entwickelten
   programmgesteuerten, elektronischen Rechenanlagen eine Vielfalt der
   Anwendungsmöglichkeiten böten. Für die Benutzer derartiger
   Rechenanlagen sei nicht entscheidend, was die Maschine tue, wichtig
   [...] allein sei, wie man die Funktion der Maschine interpretiere.
   
   Die Stuttgarter Gruppe/Schule interpretierte wissenschaftlich, indem
   sie mit Hilfe elektronischer Rechenanlagen Häufigkeitswörterbücher
   herstellte und für exakte statistische und ästhetische Textanalysen
   nutzte; sie interpretierte aber auch literarisch, indem sie das
   Verfahren der Herstellung von Wortindices praktisch umkehrte und den
   Computer anwies, mit Hilfe eines eingegebenen Lexikons und einer
   Anzahl von syntaktischen Regeln Texte zu synthetisieren und
   auszugeben.
   
   Das erste Programm von 1959, das aus circa 200 Befehlen bestand,
   brachte aus heutiger Sicht zwar noch kein aufregendes Ergebnis,
   NICHT JEDER BLICK IST NAH. KEIN DORF IST SPÄT.
       EIN SCHLOSS IST FREI UND JEDER BAUER IST FERN.
       JEDER FREMDE IST FERN: EIN TAG IST SPÄT.
       JEDES HAUS IST DUNKEL: EIN AUGE IST TIEF.
       NICHT JEDES SCHLOSS IST ALT. JEDER TAG IST ALT.
       NICHT JEDER GAST IST WÜTEND. EINE KIRCHE IST SCHMAL.
       KEIN HAUS IST OFFEN UND NICHT JEDE KIRCHE IST STILL.
       JEDER WEG IST NAH. NICHT JEDES SCHLOSS IST LEISE.
       KEIN TISCH IST SCHMAL UND JEDER TURM IST NEU.
       JEDER BAUER IST FREI. JEDER BAUER IST NAH.
       KEIN WEG IST GUT ODER NICHT JEDER GRAF IST OFFEN.
       NICHT JEDER TAG IST GROSS. JEDES HAUS IST STILL.
       EIN WEG IST GUT. NICHT JEDER GRAF IST DUNKEL.
       JEDER FREMDE IST FREI. JEDES DORF IST NEU.
       JEDES SCHLOSS IST FREI. NICHT JEDER BAUER IST GROSS.
       NICHT JEDER TURM IST GROSS ODER NICHT JEDER BLICK IST FREI.
       [...]
       
   Das erste Programm von 1959, das aus circa 200 Befehlen bestand,
   brachte aus heutiger Sicht zwar noch kein aufregendes Ergebnis, hatte
   aber für uns den Wert einer Inkunabel künstlicher Poesie, die Max
   Bense kurze Zeit später auch theoretisch von der natürlichen Poesie
   unterschied:
   
   Unter der natürlichen Poesie wird hier die Art von Poesie verstanden,
   die [...] ein personales poetisches Bewußtsein [...] zur Voraussetzung
   hat ein Bewußtsein, das Erlebnisse, Erfahrungen, Gefühle,
   Erinnerungen, Gedanken, Vorstellungen einer Einbildungskraft etc.,
   kurz eine präexistente Welt besitzt und ihr sprachlichen Ausdruck zu
   verleihen vermag. [...] Das poetische Bewußtsein in diesem Sinne ist
   ein prinzipiell transponierendes, nämlich Seiendes in Zeichen, und den
   Inbegriff dieser Zeichen nennen wir Sprache, sofern sie
   metalinguistisch eine Ichrelation und einen Weltaspekt besitzt. In
   dieser natürlichen Poesie hört also das Schreiben nicht auf, eine
   ontologische Fortsetzung zu sein. [...]
   Unter der künstlichen Poesie hingegen wird hier eine Art von Poesie
   verstanden, in der es, sofern sie z.B. maschinell hervorgebracht
   werde, kein personales poetisches Bewußtsein [...], also keine
   präexistente Welt gibt, und in der das Schreiben keine ontologische
   Fortsetzung mehr ist, durch die der Weltaspekt der Worte auf ein Ich
   bezogen werden könnte. Während also für die natürliche Poesie ein
   intentionaler Anfang des Wortprozesses charakteristisch ist, kann es
   für die künstliche Poesie nur einen materialen Ursprung geben.
   
   An weiteren Unterschieden seien noch genannt die Interpretierbarkeit
   der natürlichen und die Nichtinterpretierbarkeit der künstlichen
   Poesie, der Modus der Unwillkürlichkeit für die künstliche und der
   Modus der Willkürlichkeit für die natürliche Poesie. Wobei sich - was
   uns die Sache besondes aufregend machte - eine Begriffspaar aus dem
   "Allgemeinen Brouillon" des Romantikers Novalis in seiner Bedeutung
   geradezu umkehrte.
   
   Spuren solch künstlicher Poesie lassen sich, eingearbeitet in
   natürliche Texte, z.B. in meinen "fingerübungen" (1962), der "Prosa
   zum Beispiel" (1965) oder in Max Benses/Ludwig Harigs "Monolog der
   Terry Jo" aus dem Jahre 1968 finden. Ich zitiere nach dem Tondokument
   die Vorbemerkung des für die Regie verantwortlichen und wohl auch als
   Co-Autor anzusprechenden Heinz Hostnigs:
   
   Der Monolog beginnt mit einem Computer-Text. Es sind neun synthetische
   Annäherungen an die Sprache des Mädchens. Die Tatsache, daß gewisse
   Analogien zwischen dem zu Anfang unbewußten Zustand des Mädchens und
   der Unbewußtheit eines Computers bestehen, ließ diese erste Verwendung
   eines mit einer programmgesteuerten Maschine hergestellten Textes in
   einem Hörspiel gerechtfertigt erscheinen.
   Diese Computertexte des Monologs werden in der Realisation übersetzt
   in eine durch ein kompliziertes Vocoder-Verfahren hergestellte
   synthetische Sprache, die im Verlauf des Monologs mehr und mehr
   abgebaut und von der natürlichen Stimme abgelöst wird.
   
   Daß natürliche und künstliche Poesie sich in unseren damaligen Texten
   mischten, sagte ich und füge hinzu, daß dies auseinanderzuhalten
   selbst Kennern der damaligen Experimente oft schwer fällt. Ein
   Beispiel:
   MEIN Standpunkt und der Kirschbaum oder die Wegfahrt und der Überblick
       oder die Handhabe und das Fortbleiben oder Josef. K. und der
       Vormärz oder die Polizei und das dritte Fenster oder ein Horizont
       und das zerrissene Blatt oder der Duft und der Anflug das
       Verwelkte und das Schiff oder das Unerwartete und das Wort oder
       die Zärtlichkeit und das Gehen oder das Lesebuch und das Selbst
       oder die Nachwelt und Paris oder das ermüdete Sein und noch ein
       Händedruck oder irgendwo und Niemand.
       
   Und zum Vergleich:
   
     A house of paper
     among high mountains
     using natural light
     inhabited by fishermen and families
     
     A house of leaves
     by a river
     using candles
     inhabited by people speaking many languages wearing little or no
     clothes
     
     A house of wood
     by an abandoned lake
     using candles
     inhabited by people from many walks of life
     
     [...]
     
     A house of dust
     in a place with both heavy rain and bright sun
     using all available lighting
     inhabited by friends
     
   Keiner, der die beiden Texte nicht kennt, kann mit Sicherheit
   vermuten, geschweige denn entscheiden, daß es sich bei Textbeispiel 1
   um einen Autortext, einen durch Würfeln aus einer Tageszeitung und dem
   Roman Franz Kafkas zufällig bestimmten "Dünnschliff" (1961) Max Benses
   [vgl. auch meine Interpretation], und bei Textbeispiel 2 um ein hier
   nur auszugsweise zitiertes Computergedicht der Happening-Künstlerin
   Allison Knowles handelt. Alison Knowles "A House of Dust" von 1968 war
   eine der letzten Publikationen von Computertexten, die wir damals
   diskutierten. Ich darf diese Jahre deshalb noch einmal mit Ergänzungen
   rekapitulieren:
     * 1959 berichtete Theo Lutz im "augenblick" mit Textbeispielen über
       ein Programm zur Erzeugung stochastischer Zufallstexte.
     * Am 13.12.1960 hält Piere Barbauds im Studium Generale der TH
       Stuttgart einen Vortrag "Der künstliche Komponist".
     * 1961 berichtet Max Bense in "Zeitgenössische Literatur in
       Deutschland", einem Vortrag auf den "Morsbroicher Kunsttagen 1961"
       (Schloß Morsbroich, 5.- 7. Mai 1961), unter anderem über die
       Stuttgarter Schreibexperimente und löst damit heftige Reaktionen
       aus.
     * 1962 erscheint in der von Max Bense und Elisabeth Walther
       herausgegebenen Reihe "rot" Abraham A. Moles' "Erstes Manifest der
       permutationellen Kunst".
     * 1963 berichtet S.R. Levin in "The University of Texas Studies in
       Literature and Language" über die automatische Produktion
       poetischer Sequenzen.
     * Im gleichen Jahr übrigens, in dem unabhängig voneinander in
       Stuttgart und Erlangen die ersten Grafiken von digitalen
       elektronischen Rechenanlagen mit Hilfe eines Zeichengerätes
       hergestellt werden.
     * Derart computergenerierte Grafik wird erstmals am 4. Februar 1965
       in einer in ihrem Verlauf äußerst turbulenten Ausstellung in der
       Galerie des Studium Generale der TH Stuttgart vorgestellt mit
       Arbeiten und einem Vortrag von Georg Nees, gefolgt von einer
       gemeinsamen Ausstellung mit Arbeiten von Georg Nees und Frieder
       Nake in der Galerie der Buchhandlung Wendelin Niedlich im November
       des gleichen Jahres.
     * Beide Ausstellungen werden von Max Bense eröffnet, der 1968 auch
       die Anregung zu der von Jasia Reichardt  im "Institute of
       Contemporary Arts" in London erarbeiteten Ausstellung "Cybernetic
       Serendipity" gibt, wo bereits 1965 eine für die Grenzbereich
       Literatur/Bildende Kunst ähnlich wichtige Ausstellung, "Between
       Poetry and Painting", ebenfalls mit Stuttgarter Assistenz, gezeigt
       wurde.
     * 1966 berichtet Gerhard Stickel in "Der Deutschunterricht" über
       seine mit Hilfe einer IBM-7090-Rechenanlage des Deutschen
       Rechenzentrums in Darmstadt hergestellten "Monte-Carlo-Texte" bzw.
       "Auto-Poeme", und wählt mit "Autopoem" einen Begriff, den ich
       damals übernommen habe.
     * Die von der Stuttgarter Edition und Galerie Hansjörg Mayer und der
       Siebdruckerei Domberger edierte Mappe "16 4 66" enthält neben
       Computergrafiken Frieder Nakes auch mit dem Lichtsatz gesetzte
       gespiegelte "Coldtypestructures" von Klaus Burkhardts und Gedichte
       von mir, die heute jeder leicht auf seinem PC herstellen könnte.
     * 1967 programmieren und geben Manfred Krause und Götz F. Schaudt
       ein Bändchen "Computer-Lyrik. Poesie aus dem Elektronenrechner"
       heraus:
       
   Das Laub ist aufgeflimmert
       die tote Seele wimmert
       zum Greise nah und gar
       der Schein perlt frei und stecket
       und an den Blüten recket
       die weite Woge unsichtbar
       Wir lieben Schwanenlieder
       sind linde grüne Flieder
       und sind so mild und klar
       wir lichten Donnerklänge
       und schenken süße Sänge
       und liegen oben in dem Haar
       
   Das war keine Unsinnspoesie, die bewußt den Sinn verstellt, aber auch
   keine Parodie des Claudiusschen "Der Mond ist aufgegangen" oder des
   Gerhardtschen "Nun ruhen alle Wälder", sondern das Gedicht einer der
   Programmiersprache ALGOL [Kunstwort aus algorithmic language] hörigen
   Rechenmaschine ZUSE Z 23, Nachfolgerin der ZUSE Z 22, die wir in
   Stuttgart zum Dichten angestiftet hatten.
   
     Anläßlich dieser Buchpublikation findet in den Düsseldorfer
   Kammerspielen unter Stuttgarter Beteiligung eine Podiumsdiskussion mit
   z.T. erregten Einsprüchen des Publikums statt, die auch Ängste
   artikulieren.
   
     1968 erscheint von Allison Knowles, zu der wir über die Stuttgarter
   Galerie und Edition Hansjörg Mayer Kontakt hatten, "The House of
   Dust",
   
     sendet der Saarländische Rundfunk in einer Übersetzung und deutschen
   Fassung von Eugen Helmlé Georges Perecs "Die Maschine", ein Hörspiel,
   das die Arbeitsweise eines Computers simulierte und uns, die wir ja
   vom Text zum Computer gekommen waren, wie ein vorläufiger Schlußstrich
   erschien.
   
     1969 werden - wenn ich mich recht erinnere ein letztes Mal -
   "Autopoems" ausgedruckt, erscheinen die "poem structures in the
   looking glass" von Klaus Burkhardt und mir.
   
     1970 schließlich sendet der WDR meinen Radio-Essay "Sprache und
   Elektronik. Über neue technische Möglichkeiten, Literatur zu erstellen
   und rezipieren", der von Helmut Heißenbüttel für den SDR übernommen
   wird. Wir haben diese Ansätze außer in Vorträgen und Diskussionen
   damals nicht weiter verfolgt, sondern unser Interesse an
   künstlerischer Produktion mit neuen Medien und Aufschreibsystemen in
   andere Richtungen ausgedehnt.
   
   Netzdichtung ist kein Synonym für Computerdichtung
   
   Wichtig scheint mir dabei der Hinweis, daß diese Experimente mit
   stochastischen Texten bzw. Autopoemen, mit computergenerierter Grafik,
   konkreter Musik und der Verbindung von Sprache und Elektronik parallel
   zu verstehen sind mit dem in Stuttgart damals virulenten Interesse an
   einer konkreten bzw. visuellen Poesie, an Permutationen, Würfeltexten
   oder dem Cut-up-Verfahren, so daß das einzige, von Bense und mir
   geschriebene Manifest der Stuttgarter Gruppe/Schule, "Zur Lage" in
   Bündelung einer Vielzahl experimentell erprobter Textsorten folgende
   Tendenzen unterschied:
   
     1. Buchstaben ÿypenarrangements ûuchstaben-Bilder
     2. Zeichen ÿrafisches Arrangement ÿchrift-Bilder
     3. serielle und permutationelle Realisation ÿetrische und
     akustische Poesie
     4. Klang ÿlangliches Arrangement ÿhonetische Poesie
     5. stochastische und topologische Poesie
     6. kybernetische und materiale Poesie;
     
   dann aber hinzufügte, daßin den meisten Fällen [...] diese
   Möglichkeiten nicht in reiner Form verwirklicht und vorgeführt würden.
   Wir ziehen die Poesie der Mischformen vor. Solche Mischformen wurden
   1972 auch Thema einer Wanderaustellung der Staatsgalerie Stuttgart
   ("Grenzgebiete der bildenden Kunst"), an deren Aufbau wir
   mitgearbeitet hatten. Sie umfaßte die Teile "Konkrete Poesie / Bild
   Text Textbilder", "Computerkunst" und "Musikalische Graphik".
   
   Es scheint notwendig, daran zu erinnern, daß es neben dem Interesse an
   den Wechselbeziehungen zwischen Kunsthervorbringung und neuen
   Aufschreibsystemen in Seminaren, vor allem in Veranstaltungen des
   Studium Generale und in Publikationen selbstverständlich ein ebenso
   großes Interesse an internationaler experimenteller Literatur, Kunst
   und ihren Traditionen gab, das historisch eine Auseinandersetzung mit
   dem Werk Gertrude Steins, dessen Rezeption bis heute wesentlich in
   Stuttgart stattfindet, James Joyces, dem Kubismus, Dadaismus und
   anderen Ismen einschloß. Aktuell diskutierten und veröffentlichten wir
   über Werke des Nouveau Roman, Raymond Queneaus, Georges Perecs, Marc
   Saportas, der Beat Generation u.a.
   
   Wenn Haroldo de Campos 1970 schrieb:
   
     now i'm cummings!
     pound attention!
     finneganswait for me!
     joyce a moment!
     mallarmé!
     and arno holzwege!
     
   deutet er über das Wortspiel hinaus ein Feld damaliger und anhaltender
   Interessen an.
   
   Der Name Campos, der hier auch für die Brasilianische
   Noigandres-Gruppe steht, verweist zugleich auf ein weiteres
   Wasserzeichen der Stuttgarter Gruppe/Schule, ihre internationale
   Verflechtung vor allem mit Brasilien, Japan, Frankreich, der damals
   noch Tschechoslowakischen Republik und den Vereinigen Staaten, ein
   Netzwerk, das sich in internationalen Gemeinschaftsarbeiten und
   Korrespondenzen u.a. in der Tradition des japanischen
   Renga/Renku/Renshi oder der mail art über die Jahre fortknüpfte und
   durch Publikationen und Ausstellungen in den 90er Jahren ausreichend
   dokumentiert ist.
   
   Meine Aufzählung, die inhaltlich im einzelnen aufzufüllen hier die
   Zeit fehlt, möchte belegen, daß sich bereits vor und auch unabhängig
   vom Internet Netzwerke aufbauen (und wie ich noch zeigen werde) fürs
   Internet nutzen lassen: Netzdichtung ist kein Synonym für
   Computerdichtung.
   
   Ein Symposium mit Folgen
   
   Als sich 1994 auf dem Stuttgarter "Symposium Max Bense"
   Wissenschaftler und Künstler trafen, ging es retrospektiv
   erklärlicherweise auch um die internationalen Wechselbeziehungen der
   Stuttgarter Gruppe/Schule. Aber wir begannen infolge dieses Symposiums
   auch, in der Tradition unserer frühen Experimente die reproduktiven
   und produktiven Möglichkeiten des Internets zu diskutieren, wobei es
   nahe lag, den Gedanken der poetischen Korrespondenz für das Internet,
   das Internet für ihm gemäße und mögliche poetische Vernetzungen zu
   nutzen, und dies in mehrfacher Hinsicht.
     * Reproduktiv bot sich das Internet an als ein Ort, die im
       offiziellen Kultur- und Kunstbetrieb nur bedingt wahrgenommenen
       Interessen der Stuttgarter Gruppe/Schule in Erinnerung zu bringen
       ["Als Stuttgart Schule machte"].
     * Ausgangspunkt für die produktiven Stuttgarter Internetprojekte,
       die in der Regel zusammen mit Johannes Auer realisiert wurden (und
       werden), waren dagegen aktuelle Anlässe:
       
   "H.H.H. Eine Fastschrift" entstand anläßlich des 75sten Geburtstags
   Helmut Heißenbüttels und wurde, bedingt durch seinen plötzlichen Tod,
   mit einem wiederum weltweit geknüpften "Epilog" abgeschlossen.
   
   Am 50. Todestag Gertrude Steins errichteten wir ihr zu Ehren ein
   virtuelles internationales "Epitaph", das wir mit einer Ausstellung,
   dem "Memorial Gertrude Stein" vernetzten dergestalt, daß das "Epitaph"
   auch Teil der "Memorials" war, das seinerseits den Schlußstein des
   "Epitaphs" setzte.
   
   Auch die Max Bense gewidmete Ausstellung "Kunstraum-Sprachraum" 1999
   in Uelzen konfrontierte das Buch mit der Kalligraphie, auf
   verschiedene Art Geschriebenes mit auf verschiedene Weise Gedrucktem,
   um sich schließlich im Rathaus off line, im Medien-Café on line in
   einen virtuellen Ausstellungsraum zu öffnen, der auf dem Server der
   Stuttgarter Stadtbücherei von Johannes Auer für diese Uelzener
   Ausstellung mit virtuellen Exponaten bestückt wurde.
   
[Teil 2 folgt]

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