Tilman Baumgaertel on Fri, 12 May 2000 14:30:11 +0200 (CEST)


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[rohrpost] Ueber Uebertakter


Eine neue Internet-Subkultur...
Gruesse, 
Tilman 


from: 
http://www.BerlinOnline.de/aktuelles/berliner_zeitung/multimedia/.html/12art
ik041175.html
Berliner Zeitung, 12. Mai 2000

Mit Taktgefühl

Immer schön kühlen: Wie Computerbastler ihre Rechner schneller machen

Von Tilman Baumgärtel

Die Eisschicht in Peter Dostaleks Computer ist knapp einen Zentimeter dick.
Seit einigen Wochen wächst im Rechner des 17-jährigen Schülers aus Arnsthof
in der Nähe von Landshuth ein kleiner Block aus gefrorenem Kondenswasser.
Doch Dostalek stört es nicht, dass es in seinem Computer an einigen Stellen
kälter ist als in einer Gefriertruhe. Dafür läuft seine Maschine schneller. 

Dostalek ist ein "Übertakter", einer jener Computerbastler, die die Chips
mit einer höheren Taktzahl laufen lassen als vom Hersteller vorgesehen. Da
die Chips dabei schnell sehr heiß werden können, müssen sie gekühlt werden
- sonst "raucht das Ding ab", wie Dostalek sagt. Soll heißen, der Chip
brennt durch. 

Manche Übertakter sägen ein Loch in das Gehäuse ihrer Rechner, und
schweißen einen Föhn daran, um den Chip kühl zu halten. Peter Dostalek hat
lieber ein Kühlelement in seinen PC eingebaut, dass nun langsam überfriert.
Weil das noch nicht kalt genug ist, hat er aus alten Kühlschrankteilen eine
Wasserkühlung gebastelt. Neben dem Rechner steht ein Eimer mit Kühlwasser,
das von einer Springbrunnenpumpe aus dem Baumarkt durch den Computer
gepumpt wird. 

Der Eimer wiederum wird mit dem Kompressor aus einem Kühlschrank auf eine
Temperatur nahe dem Gefrierpunkt gebracht; da dieser Kühlkompressor
ebenfalls warm läuft, bläst ein Ventilator auf die Konstruktion. Auch das
Wasser im Eimer ist vereist. "Ich fülle kein Frostschutzmittel ein, weil
sonst die Performance mieser wäre", sagt Dostalek. Immerhin gelingt es ihm
so, die Leistung seines Computerchips um ein Drittel zu steigern. Und das
ist das Einzige, das
den Übertakter interessiert: Das Letzte aus seiner Hardware herausholen. 

Der Rechner im Garten 

Der neue Computersport hat viele Namen: "Übertakten" "Overclocking",
"Tweaking". Aber es geht nur um das eine: mehr Power für den Rechner. Dafür
frisieren die Übertakter die Chips ihrer Rechner so wie Autobastler die
Motoren ihrer Mantas. Sie scheuen weder Arbeit noch Kosten, und auch
seltsame Installationen mit Wassereimern und Schläuchen unter dem
Schreibtisch stören nicht. 

Andere versenken die Festplatte in einem Mineralölbad oder bauen Teile aus
Klimaanlagen in das Gehäuse ihrer Rechner ein - inklusive Plexiglasfenster,
damit andere die Konstruktion bewundern können. Extremisten versenken den
Rechner in einem kühlen Loch im Garten, wo er durch ein Kabel mit Monitor
und Keyboard im Arbeitszimmer verbunden ist. 

Die Übertakter nutzen dabei die Beschränkungen aus, die die Hersteller von
Computerprozessoren ihren Produkten auferlegen. Viele der
Pentium-III-Chips, die in handelsüblichen Rechnern verkauft werden, könnten
statt der serienmäßig eingestellten 600 Megahertz auch mit 700 Megahertz
betrieben werden; dazu muss man bloß einige kleinen Schalter mit einem
Kugelschreiber am so genannten "Dip-Switch" auf der Festplatte umlegen. 

Chips aus bestimmten Herstellungswochen halten diese Mehrbelastung besser
aus als andere. Qualitätsbewusste Übertakter achten beim Kauf ihrer Chips
darauf, an welchem Tag diese hergestellt worden. Auch das Produktionsland
zählt: Prozessoren aus Malaysia sind nach Ansicht vieler Overclocker besser
als die aus Costa Rica. 

"Gerade für Leute, die nicht so viel Geld haben, ist das eine gute Sache",
sagt der Berliner Übertakter Florian von Behr und rechnet vor: Sein
Computer läuft mit einem Chip für 230 Mark, den er frisiert hat, schneller
als mit dem serienmäßig eingebauten Chip für 500 Mark. Den hat er für 400
Mark verkauft und so 170 Mark verdient. Die sind allerdings zum größten
Teil wieder für die Kühlanlage drauf gegangen, die den Chip jetzt kalt hält. 

Geld sparen ist also nicht der Hauptgrund, seinen Computer zu übertakten
und zu riskieren, dass der Chip wegen Überhitzung schmilzt: "Das ist dann
teurer als ein neuer Chip", sagt von Behr. 

Als Computerfreak sieht sich von Behr jedoch nicht. Er studiert
Architektur, sein aufgeschraubter Rechner steht im Flur einer Wohnung in
Berlin-Friedrichshain, die nicht wie eine typische Hackerbude aussieht. Die
Zimmer sind aufgeräumt, statt sich türmender Pizzaboxen,
Computerersatzteilen, Kabeln und Werkzeug schmücken Plakate von
Filmklassikern die Wohnung. 

Hier betreibt der stämmige Hanseat für andere Übertakter die Website
"tweakcentral.de". Die Szene kommuniziert fast nur via Internet. Während
Computerspielfans zu LAN-Partys in Turnhallen pilgern, basteln die
Übertakter zu Hause. Auch Peter Dostalek schraubt zwar manchmal mit
Schulfreunden zusammen an Computern herum, "aber im Internet gibt es die
extremsten Leute". 

Wer sich in den Internet-Diskussionforen umsieht, in denen Übertakter Tipps
und Tricks austauschen, fragt sich, in welcher Sprache hier kommuniziert
wird. Ein Übertakter namens "Annihilator" informiert über sein technisches
Problem mit folgenden Worten: "CPU FSB 75 Megahertz, CPU Multi, SEL100/
66#Signal default, PCI Clock/CPU FSB Clock 1/2, AGP Clock 1/1, CPU Core
Coltage 2.00 Default, I/O Voltage 3.30V, In order Queue Depth8, L2 Cache
Latency Default, Spread Spectrum Modulatet DIS." Sympathisanten wie "Capt
Hook" oder "Neo" geben zu dieser Problematik bereitwillig Auskunft. 

Mit tiefgekühlten Zangen 

Andere werden aussagekräftiger: "Ich bin bekennender CPU-Folterknecht und
habe den Delinquenten in der Bearbeitung", schreibt "Marquis de Sade. "Ist
ein hartnäckiges Kerlchen. Trotz Daumenschrauben und Streckbank schweigt er
weiterhin. Werde zum dritten Grad greifen müssen: Heute Abend wird er mit
tiefgekühlten Zangen traktiert. Wäre doch gelacht, wenn er nicht sein
Schweigen bricht." 

Und was machen die Übertakter, wenn ihr Rechner endlich schnell genug ist?
Nicht viel. Eine beliebte Software misst die Geschwindigkeit des
Prozessors. Die Ergebnisse schicken sich die Übertakter per E-Mail. Wenn
sie eine rekordverdächtige Leistung erzielt haben, können sie sich auf der
Website "overclockers.com" eintragen. Dort stehen nur die schnellsten Chips
und die kühnsten Basteleien: Wer seinen Celeron-Chip von 288 auf 800
Megahertz hochgetaktet hat. Wer der "magischen Ein-Gigahertz-Schwelle" nahe
gekommen ist. Und wer durch Abraspeln mit feinem Sandpapier die Temperatur
seines Prozessors unter 70 Grad senken konnte. Ansonsten kann man mit den
Computern etwas schneller Games spielen. Aber das ist nur ein Nebeneffekt.
"Im Grunde geht es ums Basteln", gibt Peter Dostalek zu. Und wenn der Chip
nicht mehr beschleunigt werden kann, baut man eben noch eine Schalldämpfung
für den Computer. Eine Wasserpumpe, ein Lüfter und ein Ventilator unter dem
Schreibtisch können nämlich ganz schön laut sein. 

LINKS Die Treffpunkte der Übertakter-Szene // Tweakcentral www.
tweakcentral. de TweakPC www. tweakPC. de Hardware www. hardwareguru. de
Overclockers www. overclockers. com Martins Übertakter-Seite www.
übertakten. de Cooling Systems www. cooling-systems. de 



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