Ralf Knüfer on Fri, 19 May 2000 14:02:40 +0200 (CEST)


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[rohrpost] realfiction.de



	---weitergeleitete nachricht----

im Anschluss taz-interview

Thomas Findeiß (42) lebt seit 15 Jahren in Berlin, arbeitete
als Studio- und Filmmusiker, Schauspieler und
Synchronsprecher, schrieb Drehbücher und die Romane "Holy
Days" (1997) und "Die Heimat der Schneestürme" (1999). Beide
erschienen im Verlag Volk & Welt Berlin.

Seit einem Monat lädt Findeiß unter  www.realfiction.de 
dazu ein, sich an dem noch nicht existierenden Roman
"Eclipse" (Finsternis) zu beteiligen.
Jeder darf schreiben was er will; die Wahl der Charaktere
und Handlungen ist jedem selbst ueberlassen, Art und Stil
des Materials unterliegen keinerlei Vorgaben. Letztlich
bestimmen alle, die mitmachen, die Struktur des Textes.

Wir sprachen mit Thomas Findeiß über das Projekt.

Wie kann ich mitmachen? Kostet mich der Spaß Geld?

Thomas Findeiß: Nein - aber was Sie brauchen ist
Unmittelbarkeit, Inspiration und die Lust, sich selber als
eine Romanfigur schreiben zu können. Ich glaube (lacht), das
mit dem Geld sollten wir vielleicht wieder einführen. Ganz
am Anfang hatten wir naemlich mal die Idee, dass man
symbolisch einen Euro überweisen sollte.
Aber im Ernst: Für den, der mitschreiben will, gibt es ein
Link auf der realfiction.de -Seite, das das Mailprogramm
aktiviert; dort kann man hineinschreiben, was man will und
es abschicken. Der Text kommt dann automatisch bei uns an.

Was reizt an dieser Form des Romanschreibens?

Das ist keine Form des Romanschreibens, sondern eher mit
einer dramaturgischen Arbeit vergleichbar.
Ich hoffe ja, daß Leute, wenn sie erst mal etwas geschrieben
haben, dann auch weiter mitschreiben werden, so dass durch
diese kontinuierlichen Zusendungen so etwas wie ein
literarischer Sprechgesang entstehen kann; womit ich nicht
Rap oder dergleichen meine. Die Idee ist, Material zu
sammeln und es dramaturgisch aufzubereiten und zu montieren,
wie die Szenen eines Films. Also nicht einfach nur
aneinander zu kleben und
ein Patchwork entstehen zu lassen, das nach allen Seiten
ausufert, jeden überfordert und niemanden interessiert,
sondern aus der fortlaufenden Vernetzung realer Fiktion die
Matrix für ein literarisches Werk entstehen zu lassen.

Ungemein schwierig, verschiedene Stile und Geschichten
miteinander so zu verweben, dass es lesbar wird...

Genau dies ist ja das Reizvolle an dem Projekt
Ich wäre Pförtner und Regisseur in einem - aber eben nicht
Schauspieler und Bühne.

Haben denn Leute schon etwas geschrieben ?

Ja - und es gibt da Jemanden, der ganz erstaunliche
Beitraege liefert. Aber das Projekt läuft erst an. Werbung
gab es noch nicht. Die TAZ ist die erste Zeitung, die etwas
darüber berichtet. 

Wer wird sich an "Eclipse" wohl beteiligen? Freaks, ihre
Fans, Germanistikstudenten?

Ich hoffe: geistvolle Leute. Es kommt natuerlich auch darauf
an, über welche Links jemand auf  realfiction.de  stoesst.
Ueber die normalen Suchfunktionen und Suchmaschinen des
Internet wird wohl wenig laufen, weil man sich da als
Anbieter einkaufen muss und es kostet viel Geld, um in der
Hierarchie der
Suchbegriffe weit oben zu stehen. Ich dachte am Anfang, dass
man Worte wie „Hitler“, „Kokain“ oder „Kindersex“
voranstellt und die Suchmaschinen darauf anspringen. Aber
die Leute, die danach suchen, sind in der Regel weniger
produktiv. Obwohl ich auch nichts gegen einen
pornograhischen Roman hätte. Es ist eben alles in allem ein
spannendes Experiment.

Wird es auf alle Fälle den Internet-Roman geben, egal, wie
viele Leute nun mitmachen und was sie fabulieren?

Ich mag das Wort Internet-Roman nicht, das ist etwas
unglaublich primitives. Aber wenn zwei Menschen, die sich
nicht persoenlich kennen, angeregt e-mails austauschen oder
miteinander chatten - und nicht merken, dass sie real
nebeneinander an zwei Computern sitzen, dann ist das schon
eine besondere Form von Kommunikation, in der jemand zu
einer staerkeren Subjektivitaet auflaufen kann, als er es
sich in einem Gespraech gestatten wuerde. Und darauf kommt
es an. Niemand kann wiederholen was Andy Warhol machte, oder
Rainald Goetz. Hier soll kein Internet-Roman entstehen; das
Internet ist nur das Medium fuer einen oeffentlichen Traum,
ein oeffentliches Gedaechtnis.

Warum überhaupt dieses Risiko und das Projekt des
ungeliebten Internet-Romans? Keine Idee für ein neues Buch?
Schwierigkeiten, einen Verlag zu finden?

Keineswegs - und schon gar nicht, weil mir die Ideen
ausgehen. Es ist ein Versuch, das Medium, das unsere
Kommunikationsform entscheidend verändern
wird, produktiv zu nutzen. Hier in der Plastiktüte (auf dem
Tisch liegend) übrigens befindet sich das Manuskript meines
dritten Romans, das ich jetzt gleich zu meinem Verlag
bringe.

Wie wird "Eclipse" an die Leser gebracht?

Geplant ist, den Text fortlaufend im Netz auf realfiction.de
lesen zu können. Darueberhinaus wollen wir den Roman als
book-on-demand anbieten. Du bestellst das Buch im Internet
und erst dann wird es gedruckt; egal, ob du ein oder zehn
Exemplare willst. Es wird zugeschickt und kostet genauso
viel wie sonst im Buchhandel auch.

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