florian schneider on Wed, 7 Jun 2000 20:51:17 +0200 (CEST)


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[rohrpost] tulpenwahn


# hier mein bericht von der tulipomania konferenz /fls

Eigentlich haben Tulpen keinen außergewöhnlichen Wert: Sie sind weder
schön wie Orchideen noch duften sie wie Rosen. Trotzdem schnellten in
den dreißiger Jahren des 17. Jahrhundert die Preise für einige Sorten in
kürzester Zeit in schwindelerregende Höhen. Klein- und Großbürger
steigerten sich in einen derartigen Spekulationsrausch, daß
Außenstehende den Staat bereits um ein Verbot des Tulpenhandels
ersuchten. Doch 1637, nachdem die Zwiebel einer besonders raren Sorte
für damals sagenhafte 5000 Gulden den Besitzer wechselte, brach der
gesamte Markt innerhalb weniger Stunden zusammen. 

Seit dem ersten spektakulären Crash in der Geschichte des Kapitalismus
symbolisiert ausgerechnet die biedere Tulpe Eitelkeit und
Vergänglichkeit. "Tulipomania.Com" war der also vielsagende Titel einer
Konferenz, die erstmals den Versuch unternahm, die "New Economy" einer
systematischen politischen Kritik zu unterziehen. Im Amsterdamer
Kulturzentrum "De Balie" traf sich am vergangenen Wochenende ein
illustrer Kreis aus Ökonomen, Unternehmensberatern, Sozial- und
Wirtschaftwissenschaftlern, Medientheoretikern und Netzkritikern aus
aller Welt, um die Aus- und Wechselwirkungen des Booms der neuen Märkte
auf die sozialen und kulturellen Sphären zu erörtern. Was die Eulen für
Athen, sind die Tulpen für Amsterdam: auf alle Fälle ein enormer
Standortvorteil in der aktuellen Debatte. Angesichts einer dichten
Infrastruktur und der Vielzahl von praktischen und theoretischen
Aktivitäten braucht hier niemand glauben, allein durch die pathetische
Deklaration von irgendetwas Neuem noch jemand hinter dem Bildschirm
hervorlocken zu können. Obendrein ist spätestens, seit die "New Economy"
erste Risse zeigt, Skepsis angesagt. Die gegenwärtige Euphorie sei in
den meisten Punkten vergleichbar mit der Begeisterung, die die
Einführung des Telegrafennetzes auslöste, stellte recht trocken Doug
Henwood fest, der mit seinem Buch "The Wall Street" in den USA
sicherlich zu den profiliertesten Kritiker des Casino-Kapitalismus
gehört. Auch Robin Cowan, Professor an der Universität Maastricht, blieb
vorsichtig, was die neue Qualität der ökonomischen Verhältnisse anlangt,
und verstieg sich allenfalls zu der These: "Kleinste Veränderungen
können in bestimmten Fällen ungeheure Veränderungen auslösen." 

Egal ob Massenhalluzination oder realer Transformationsprozess -
hervorstechendes Merkmal der "New Economy" ist ihre scheinbare
Unausweichlichkeit. Ignacio Ramonet hatte die neoliberale Marktideologie
bereits 1995 als "One-Idea-System" charakterisiert, deren Prämisse einst
als Domäne eingefleischter Marxisten galt: "Die ökonomische Sphäre
erhält Vorrang vor der politischen." Je autonomer die globalen
Finanzmärkte operieren, desto populärer werden freilich die Ereignisse
in den früher recht unzugänglichen Gefilden der Geld und
Kapital-Transaktionen: Der Wirtschaftsjournalist ist unbestrittener
Chronist unserer Zeit, Börsengänge und Kursentwicklungen diktieren die
Topmeldungen des Tages, das Aktiendepot fungiert als Sparschwein oder
feierabendlicher Nervenkitzel für immer breitere Schichten. 

Um den postmodernen Kapitalismus zu kritisieren, reicht es sicherlich
nicht, den Hype zu dekonstruieren oder in moralisierenden Urteilen zu
verharren. Aufschlußreicher ist, die vielen, sich ständig verschiebenden
Perspektiven zusammenzutragen, in denen die Auswirkungen der "New
Economy" jeweils wahrgenommen und erfahren werden. Die
"Tulipomania"-Konferenz bot schon einmal eine Reihe verschiedener
Optionen an, wer als Subjekte kommender sozialer Auseinandersetzungen
oder Agent virtueller Gegenmacht in Frage kommen könnte.

Nach den Demonstrationen gegen die Treffen von WTO, Weltbank und IWF
gilt die Koalition aus Gewerkschaften, NGO's und einer neuen
US-amerikanischen Protestgeneration bewaffnet mit Videokamera, Laptop
und Mobiltelefon als Hoffnungsträger einer Globalisierung von unten. Auf
den ersten Blick mag es sich um Offline-Aktivismus der alten Schule
handeln, der aber durch die weltweite Vernetzung der Basisgruppen neue
und oftmals auch sehr materielle Dimensionen erhält. Denn daß der
allergrößte Teil der Welt vom vermeintlich weltweiten Boom der
Informations- und Kommunikationstechnologien ausgeschlossen bleibt,
verschärft die Widersprüche zwischen erster und dritter Welt dramatisch.
Daran ändert auch die Auslagerung vieler Teile der Soft- und
Hardware-Produktion in die Klitschen der High-Tech-Zentren einiger
asiatischer Länder nichts. Im Gegenteil, die Ein- und
Ausschlussmechanismen entlang der verlängerten Werkbanken der
Informationsindustrie produzieren einen "Digital Divide", der das
herkömmliche Ausbeutungsgefüge noch potenziert. 

Alicia Dogliotti ist Koordinatorin von NGOnet, einem Projekt, das sich
der Verbreitung von Internetzugänge in unterentwickelten Regionen
verschrieben hat. Systematisch werden in verschiedenen
lateinamerikanischen Ländern kleine Dorfgemeinschaften mit "Cabinas",
kollektiven Netzzugängen ausgestattet. Dogliotti kann ein Lied davon
singen, wie schwer es ist, erst die Untiefen der lokalen
Telekommunikationsmärkte zu umschiffen und dann die US- und
eurozentrische Struktur des Internet aufzubrechen. Die Länder des Südens
kommen schließlich weder in den Suchmaschinen vor noch in den Szenarien
des sogenannten perfekten Marktes. Der rasante Anwuchs der Bandbreiten
in den hochentwickelten Ländern steht im eklatanten Widerspruch zu der
Tatsache, daß 80 Prozent der Weltbevölkerung wahrscheinlich noch nie in
ihrem Leben ein Telefongespräch geführt haben dürften. In den USA und
Westeuropa mutiert das Proletariat derweil zum "Konsumtariat".
Politische Rechte scheinen unter dem Imperativ von grenzenlosen
Geschäften rund um die Uhr zu bloßem Verbraucherschutz zu degenerieren.
Daß dessen legales Instrumentarium ohnehin kaum mehr greift, darin sind
sich die Vertreter der einschlägigen Lobby-Organisationen einig. Der
traditionelle, langwierige Gesetzgebungsweg scheint nicht nur durch die
internationale Reichweite des elektronischen Handels auf der Strecke zu
bleiben, bürokratischer Konsumentenschutz von Staatswegen wirkt vor
allem durch die rasanten Innovationen reichlich unzeitgemäß. 

Die weitverbreitete Auffassung, das Internet könne sich selbst
regulieren, bringt indessen skurile Formen von "Private Governance"
hervor: Institutionen wie die neue "Internet-Regierung" ICANN, die die
Namensvergabe im Netz regelt, das W3-Konsortium oder die "Internet
Engineering Task Force (IETF)", die über die technischen Standards
wachen, sind im wesentlichen von privatwirtschaftlichen Interessen
geprägt und entziehen sich den Formen herkömmlicher politischer
Kontrolle. Deregulierung und Liberalisierung der Kommunikationsmärkte
führen zu Konzentration und Monopolisierung. Michael Latzer,
Forschungsdirektor an der Österreichischen Akademie der Wisssenschaften,
gibt den Kleinen der Branche schon mittelfristig keine Chance: enorme
Aufwendungen für Forschung und Entwicklung, die Verlagerung der
Fertigungskosten auf das immer teurere erste Stück bei dann aber
dynamisch anwachsenden Erträgen, sowie unabwendbar hohe Ausgaben für
Werbung und Promotion, fachen einen gnadenlosen Verdrängungswettbewerb
auf den "Winner-takes-all" Märkten an. Für Verlierer gibt es nicht
einmal mehr den zweiten Platz. 

Vor diesem Hintergrund erwägt der niederländische "Consumentenbond",
immerhin größte Verbraucherschutzorganisation der Welt, dem drohenden
Machtverlust nun mit ungewöhnlichen Maßnahmen gegenzusteuern. Im
Interesse der Konsumenten sollen nicht nur Gütesiegel für vorbildliche
Internet-Händler und servicefreundliche Portale mit digitalen
Tante-Emma-Läden vergeben werden, sondern zusammen mit "Hackern" gezielt
Datenschutzverletzungen und Sicherheitslücken bei den großen Konzernen
aufgedeckt werden. 

"Nettokratie" ist eine der jüngsten Wortschöpfungen, die den Blick auf
die soziale Zusammensetzung der Informationsgesellschaft lenken soll.
Den von Arthur Kroker schon 1994 zur "virtuellen Klasse" erhobenen
Entrepreneurs steht ein Heer von Netzsklaven gegenüber, die sich bei den
Start-Ups in den Silicon-Somethings verdingen: Über siebzig verschiedene
Varianten von Valleys, Alleys über Coasts, Villages und Vineyards, bis
hin zum Cyberabad, listet die Siliconia-Homepage auf. Die Arbeitskräfte,
sagt Andrew Ross, der als Direktor des American Studies Program an der
New York University die Situation im Silicon Alley untersucht hat, seien
zur Hälfte Werkvertragsarbeiter, die vor allem darauf angewiesen seien,
daß ihre Aktienanteile steigen. Das Durchschnittseinkommen liege mit
50.000 US Dollar ungefähr bei der Hälfte dessen, was in den alten Medien
verdient werde. Bemerkenswert ist, daß ausgerechnet Künstler mit ihrem
flexiblen und selbstlosen Arbeitsethos das Rollenmodell für die
"freiwillige Niedriglohn-Armee" abgeben. Der "Glamour der Boheme" kommt
nach Ross einer Einladung zur Unterbezahlung gleich. 

Etwas optimistischer blickt Richard Barbrook auf die Gegenwart. Der
Londoner Ökonom ist bekannt geworden mit einer großen Polemik gegen die
libertäre kalifornische Ideologie rund um das Magazin "Wired".
Inzwischen hat er sich auf das Studium der "Digital Artesans" verlegt:
Sich selbst motivierende Arbeitskräfte, die in den flachen Hierarchien
der jungen Internet-Firmen operieren und nichts anderes zu verkaufen
haben als ihr Wissen. Die Gestalter und Verwalter der Codes ähneln
jedoch eher Gramsci's organischen Intellektuellen als einer digitalen
Arbeiterklasse. Barbrook gehört zu den Verfechtern der gewagten Theorie,
daß der Kommunismus bereits real existiert. Als eine Art
"Dot-Communismus", der vor allem auf der Geschenkökonomie der
Open-Source-Gemeinde fußt. Richtig ist in jedem Fall, daß der freie
Austausch von Gütern und Informationen im Internet glänzend funktioniert
- ganz im Gegensatz zu diversen halsbrecherischen Business-Modellen, die
am grünen Tisch entworfen wurden und von technischen Problemen,
mangelndem Vertrauen, kaum überzeugenden Geschäftsideen gebeutelt
werden. Neben dem puristischen Modell von Mark Stahlmanns "GNU General
Public License" gibt es jetzt schon unzählige hybride Varianten in einer
wachsenden Grauzone zwischen "Open Source" und "E-Commerce", die die
digitale Warenwelt spätestens dann bestimmen werden, wenn das schnelle
Geld der Börsengänge erstmal verbraucht ist.

Daß die "New Economy" aber nicht nur hochqualifizierte Jobs
hervorbringt, sondern vor allem Unmengen von vergleichsweise banalen
Tätigkeiten wie Telefonieren, Pizza-Bringen oder Saubermachen schafft,
wird in den gegenwärtigen Debatten gewöhnlich unterschlagen. In den USA
machen seit einigen Wochen Tausende von Reinigungskräften mit einer
Streikwelle bisher ungekannten Ausmaßes auf sich aufmerksam. Die
"Janitors", die die Office-Türme jede Nacht von den Überresten der
immateriellen Arbeit reinigen, sind meist lateinamerikanische
Einwanderer. Die "Janitors" kämpfen um eine sukzessive Anhebung ihrer
Hungerlöhne, für die die boomenden High-Tech-Firmen allerdings keine
Verantwortung übernehmen wollen. Für die schmutzigen Geschäfte sind
nämlich Subunternehmer zuständig.

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