Ralf Knüfer on Thu, 8 Jun 2000 10:52:51 +0200 (CEST)


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[rohrpost] Literatur im total flachen Land


Die Moral der Schriftsteller 

Die Berliner Schaubühne (http://www.schaubuehne.de)
inszenierte Anfang Juni das Nachspiel einer literarischen
Kontroverse über die "Schwierigkeiten beim Schreiben der
Wahrheit".


Der Blick auf die Eintrittskarte war wie ein Menetekel:
„Szenische Lesung R.Goetz“ stand klein gedruckt über dem
verkürzten Thema „SCHWIERIGKEITEN...“. Rainald Goetz sagte
kurzfristig ab. Dabei sollte es nicht um Schwierigkeiten an
sich, sondern ganz konkret um „Schwierigkeiten beim
Schreiben der Wahrheit“ in einer Zeit gehen, da Verlage und
Lektoren marktgerechte, stromlinienförmige Produkte suchten
und produzierten. Neben Rainald Goetz hatte Thomas
Ostermeier die Schriftstellerin Terézia Mora und ihre
Kollegen Maxim Biller, Peter Stamm, Florias Illies in die
Schaubühne eingeladen, um eine kürzlich im fernen Tutzingen
entbrannte literarische Kontroverse zu diskutieren. 

Die Vermutung liegt nahe, dass die Absage von Rainald Goetz
in der Person von Maxim Biller zu suchen ist. In der
Evangelischen Akademie hatte Biller ein Pamphlet mit dem
Titel „Feige das Land, schlapp die Literatur“
http://www.archiv.ZEIT.de/daten/pages/200016.moral_.html
gegen das sogenannte Popliteratentum vorgetragen: 

„Was sind das nur für lauwarme Geschichten, die wir – seit
der Wiederkehr des Realismus in unserer Literatur vor zehn
Jahren - immer wieder zu lesen bekommen! Was sind das für
konfliktlose Konflikte, die da geschlagen werden! Es ist ja
fast immer irgendwie derselbe Pseudoplot: Ein junger Mann,
eine junge Frau, die in der Regel aus der Provinz stammen,
suchen sich selbst.“ 

Biller geißelte nicht nur die Deutschen als ein
Volk von selbstsüchtigen Neurotikern, das aus Angst vor der
Wahrheit in einer freiwilligen Meinungsdikatur lebe, sondern
rief auch dem alten Bekannten Rainald Goetz ein „Ja, auch Du
Rainald“ zu: „Auch Du scheinst inzwischen ein Leben ohne
Risiko vorzuziehen, ohne Gegnerschaft und ohne Hass.“ 

Schwierigkeiten, denen Rainald Goetz an diesem Abend Anfang
Juni in der Berliner Schaubühne wohl lieber aus dem Weg
ging. Wer will, kann später Thomas Ostermeier in einer der
Pausen sagen hören: „Der Rainald lehnt sich deswegen nicht
aus dem Fenster.“

Dabei hätte man erwarten können, dass gerade Rainald Goetz
mit den „Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“
bestens vertraut ist. Kaum ein Autor hat sich sein Leben oft
genug vergällt mit der Produktion von Text, mit der einsamen
Arbeit am Schreibtisch und mit dem Verschwinden des Lebens
dahinter. Der TEXT, das war für ihn in seinen Büchern die
„härteste Droge, die ich kenne“, gelegentlich eine Party
(„Der Text ist meine Party“). In der Erzählung „Rave“ war
„Textstillstand. Handlungsstillstand. – Zeitstillstand“
gleichbedeutend mit „Agonie“. In der Erzählung
Dekonspiratione ist es das Asoziale der Schreiberexistenz,
das Kaputte daran. 

Was bleibt von dem Theater? Terézia Mora las zwei Texte. In
„Gier“ berichtete sie von den Warnungen, die einer jungen
Schriftstellerin zuteil werden: „Du endest wie die
Bachmann... Literatur, Literatur ...in zehn Jahren bist du
kaputt!“ Warnungen, die sie heute nicht erschrecken. Sie
beschreibt sich als Angehörige einer rauschhaften
Generation, eine Generation, die intensives Erleben dem
Streben nach Karriere vorzieht: „Literatur, Literatur!“
Terézia Mora liest von losen Blättern, rhythmische Texte,
die einen Hymnus singen auf intensive Wahrnehmung samt der
erlaubten existentiellen und surrealistischen Verzerrungen
von Wirklichkeit. Da war man froh, in der Schaubühne gewesen
zu sein, auch wenn das alles nichts mit der Wirklichkeit
oder der Wahrheit zu tun hatte.  

Ob der Text von Maxim Biller wirklich für „helle Aufregung
im Literaturbetrieb“ gesorgt hat, wie die ZEIT am Rande des
Texts von Maxim Biller versprach, den sie Mitte April
beinahe in voller Länge nachdruckte, bleibt offen;
vielleicht fragt man lieber nicht nach. Nur: sind
Schriftsteller für Moral verantwortlich? Stimmt, wie Biller
schreibt, dass es ohne Moral keine Kunst und keine Literatur
gibt. Bedarf Literatur einer Rechtfertigung durch eine ihr
zugrunde liegende Moral? 

Biller meinte, es sei der Idealismus des Autors, der ihn 
antreibe. Aber ein Idealist allein schreibt
nicht notwendig ein gutes Buch. Bestenfalls entwickelt der
Autor eine Ethik des Ästethischen, auf die er sich beruft
und verlässt, nach der er seine Themen wählt, er- und
verarbeitet.

Verwirrung nannte Biller an diesem Abend einen klassisch
deutschen Zustand, er attackierte die allgemeine
Positionslosigkeit und zielte auf die Unfähigkeit, klare
Urteile auszusprechen: "Wer hat Ihnen zuletzt, ohne
Rücksicht auf persönliche Verluste, gesagt, was er für
richtig, was er für falsch hält?" 

In seinem verständlichen Furor über die gesellschaftlichen
Folgen des Systems Kohl, das er in "Feige das Land..."
beschreibt, übersieht Biller, dass der Vorwurf der Unmoral
an Schriftsteller nicht so neu ist. Man könnte eine lange
Liste führen, und dafür gibt es einen Grund: sie
würden kein einziges Wort schreiben, hätten sie Meinungen
und Prinzipien in dem Sinne, wie sie ihre Nachbarn haben. 
Alles andere ist bereits Teilhabe an der von Biller
attackierten Meinungsdikatutur. 

Der Geschmack der Gesellschaft bleibt das Tabu, das sie über
sich selbst verhängt. Daran wird auch ein Biller nichts
ändern. Der Anpassungsdruck an die tendenziell vollständige
ökonomische und technologische Durchdringung aller
Lebensverhältnisse ist das Thema der Gegenwart. Es ist
spürbar und sichtbar, nur eben mit dem Blick in den
Rückspiegel nicht zu erfassen. Mehr ist eine heroische
Herausforderung. Und dass sich ausgerechnet Journalisten als
„Speerspitze der Revolution“ betätigten, wie Biller an 
diesem Abend forderte - wer mag daran glauben?

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