florian schneider on 25 Jul 2000 21:10:20 -0000


[Date Prev] [Date Next] [Thread Prev] [Thread Next] [Date Index] [Thread Index]

[rohrpost] schlechte karten


[hier die ungekuerzte version eines textes, der am morgigen
mittwoch im feuilleton der sueddeutschen zeitung erscheint. 
/fls]

SCHLECHTE KARTEN

Der Zeitpunkt hätte geschickter nicht gewählt werden können. Am 1. Mai
diesen Jahres veröffentlichten Esther Dyson, Linus Torvalds und Steve
Wozniak ein migrationspolitisches Manifest, das in eine hitzige Debatte
intervenierte: "The New Economy needs new Americans", stellten die wohl
bekannteste Internet-Unternehmensberaterin, der Erfinder des
Betriebssystems Linux und der Mitbegründer der Firma Apple in einem
offenen Brief an die Kongressabgeordneten fest. Zum internationalen
Kampftag der Arbeiterklasse machten die drei Superstars der New Economy
ein unmissverständliches Plädoyer in Sachen Einwanderung:
IT-Spezialisten, wie sie in letzter Zeit zu Hunderttausenden in die USA
gelockt werden, dürften nicht in einem rechtlosen Gastarbeiter-Status
gefangen bleiben, sondern müssten auf die gleichen Rechte wie alle
Amerikaner zählen können.

Linus Torvalds weiß, wovon er spricht. Selbst dem Computer-Genie aus
Finnland wurde es nicht besonders leicht gemacht, als er vor knapp zwei
Jahren ins Silicon Valley abgeworben wurde. Torvalds schaffte es auch
nach persönlicher  Intervention der örtlichen Kongressabgeordneten
bislang nicht, an eine reguläre Green Card zu kommen. Stattdessen
arbeitet er nach wie vor, und wie Hundertausende wesentlich weniger
protegierte IT-Arbeiter, in einem Gastarbeiterstatus, der in den USA
"H-1B" heisst: Ein "Nicht-Einwanderungs"-Visum, das die ursprüngliche
Vorgabe hat, einen vorübergehenden Arbeitskräftemangel zu beseitigen,
und ausländischen Experten einen maximal sechsjährigen Aufenthalt
beschert. 

Nach einer langen Debatte wurde die Zahl der "H-1B"-Visa im Sommer 1998
auf 115.000 pro Jahr festgelegt. Auf massivem Druck der Industrie
präsentierte die Clinton-Administration damals einen Kompromiss, der
auch eine Ausbildungsabgabe enthielt; der vom Arbeitgeber zu
entrichtende symbolische Betrag von 500 Dollar pro Visum sollte die
damals noch notorisch einwanderungsfeindlichen Gewerkschaften milde
stimmen. An Nachfrage mangelte es jedenfalls nicht: Im März diesen
Jahres - zu einem Zeitpunkt also, als in Deutschland gerade die "Kinder
statt Inder"-Kampagne anschlug - war jenseits des Atlantiks das
Kontigent an "H-1B"-Visa für das gesamte Jahr 2000 bereits ausgeschöpft.
Mitten im Vorwahlkampf begann ein Wettlauf, in dem Demokraten und
Republikaner um die Gunst der High-Tech -Industrie buhlten und sich
gegenseitig mit immer großzügigeren Offerten überboten, wie der
boomenden Volkswirtschaft weitere Arbeitskräfte zuzuführen seien. Von
300.000 unbesetzten Stellen war die Rede und Clinton stellte eine
Verdreifachung der Zahl der "H-1B"-Visa für die nächsten Jahre in
Aussicht. 

Plötzlich aber regte sich Widerspruch: Sprecher der indischen
Programmierer-Community, die mittlerweile fast 40 Prozent der
Arbeitskräfte im Silicon Valley stellt, beanspruchten einen sicheren
Aufenthaltsstatus. Wer mit der Kündigung auch sein Bleibebrecht
verliert, stehe exzessiver Ausbeutung und Lohndumping schließlich mehr
oder weniger machtlos gegenüber. Um nicht länger wie Sklaven an einen
Arbeitgeber gebunden zu sein und das Land ohnehin nach ein paar Jahren
wieder verlassen zu müssen, forderten die Inder echte "Green Cards". Auf
diese Linie sind in den vergangenen Wochen auch Gewerkschaften wie die
AFL-CIO und der größte Berufsverband der Branche, die IEEE-USA,
eingeschwenkt. Bis vor kurzem galten die beiden Organisationen noch als
Bastionen ständisch motivierter Fremdenfeindlichkeit, jetzt stehen sie
an der Spitze einer Koalition für eine grundsätzliche Reform der
Einwanderungsbestimmungen. 

Die Wendung vom Saulus zum Paulus dürfte niemand besser verkörpern als
Paul Donnelly: Als PR-Direktor der US-Kommission zur Einwanderungsreform
trat er 1996 für die  Verringerung der Zuwanderungzahlen auf fast die
Hälfte ein, doch heute verficht Donolly Standpunkte, die wie das blanke
Gegenteil seiner agressiven Stimmungsmache in den 90er Jahren anmuten.
Als Sprecher der "Immigration Reform Coalition" initiierte er den
Offenen Brief von Dyson, Torvalds und Wozniak, der bald von den
wichtigsten CEO's der Branche unterzeichnet wurde. 

Verglichen mit Donolly sehen die Wendehälse hierzulande ziemlich
altbacken aus. Beckstein und Schily tun sich bekanntermaßen hart, den
radikalen Kurswechsel in der Migrationspolitik schlüssig zu begründen,
ohne ihre Positionen zur "Nullmigration" von noch vor ein paar Monaten
der Lächerlichkeit preiszugeben. Ausländer kämen nach Deutschland, um
unseren Sozialstaat auszunutzen, wurde den Menschen landauf, landab
jahrelang von Politikern fast aller Parteien  eingebleut. Davon, daß
hochmotivierte internationale Arbeitskraft durchaus nützlich sein könne,
durfte keine Rede sein. Ein Tabuthema, das erst mit dem gemeinsamen
Vorstoß der Vetreter führender Computerkonzerne zur CEBIT aufgebrochen
wurde. 

Seitdem tobt nun eine Debatte, die die Fronten gehörig
durcheinanderwirbelt und zumindest einen Nutzen hat: Die festgefahrene
Auseinandersetzung ist endlich vom Kopf auf die Füße gestellt. Langsam
spricht es sich schließlich auch in Deutschland herum: Um wenigstens
einen Rest sozialer Errungenschaften zu retten, braucht es jede Menge
Zuwanderung. Um die Herausforderungen der New Economy zu meistern,
müssen Spezialisten aus aller Herren Länder angeworben werden. Um auf
den globalen Märkten konkurrenzfähig zu sein, muß auch die
Mitarbeiterschaft eines Betriebes entsprechend zusammengesetzt sein. 

Dabei handelt es sich freilich um Einsichten, die keinswegs revolutionär
sind, und schon gar nicht neu. Zu lange aber glich, was hierzulande
unter Globalisierung verstanden wurde, einem Lufthansa-Linienflug: Vorne
sitzen die Business Nomaden, die nicht nur genügend Statusmeilen,
sondern vor allem den richtigen Pass haben, dazwischen Touristen auf den
billigen Plätzen und hinten die gefesselten und geknebelten Schüblinge:
Menschen, die abgeschoben werden, weil sie angeblich aus bloss
"wirtschaftlichen Gründen" eingereist seien.

"The New Economy needs new Europeans." 
Natürlich wäre es naheliegend, den Bonmot von Dyson, Torvalds und
Wozniak einfach in die alte Welt zu übertragen. Doch schon beim zweiten
Mal Lesen, offenbart das Wortspiel einen ungeahnten Facettenreichtum:
Müssen sich nicht zuerst die Europäer ändern, bevor sie den Segen der
Zuwanderung von Experten, deren teure Ausbildung schließlich in
wesentlich ärmeren Regionen dieser Welt finanziert wurde, überhaupt
verdient haben? Zeugt die Devise "Rein darf nur, wer uns nützt" nicht
von gelinde gesagt allzu schlichtem Gemüt? Ist derlei Bauernschläue, wie
sie seit neuem in den Landes- und Bundesministerien grassiert, dem
überaus komplexen und vielschichtigen Migrationsdiskurs angemessen?

Verglichen mit dem Niveau, das für die Auseinandersetzungen in den USA
in quantitiativer und qualitativer Hinsicht selbstverständlich scheint,
wirken die hiesigen Debatten wie Spiegelfechterei. Die Gewerkschaft
AFL-CIO, beileibe keine linksradikale Splittergruppe, fordert neuerdings
Papiere für alle, die als "Illegale" mit Niedrigstlöhnen am
gegenwärtigen Boom maßgeblich mitgearbeitet haben. Mehrere ehemalige
Verwaltungsdirektoren der Einwanderungsbehörde INS plädieren in einer
"National Coalition for Dignity and Amnesty" für eine Generalamnestie
aller geschätzt rund 5,5 Millionen Migranten ohne Aufenthaltstitel.
Selbst Präsident Clinton stellte kürzlich fest, die Einwanderungspolitik
in seinem Land gerate zunehmend unfair und elitär. Er meinte, wenn nun
einige Hunderttausend graduierte Software-Entwickler ins Land gelassen
werden, dürfte es auch kein Problem darstellen, den paar Tausend
Flüchtlinge aus lateinamerikanischen Ländern ein dauerhaftes Bleiberecht
zu gewähren.

Es kann natürlich nicht darum gehen, die über zweihundertjährige
Tradition der USA als Einwanderungsland praktisch über Nacht auf den
alten Kontinent herunterzuladen. Es fragt sich auch, inwiefern das
herkömmliche Verständnis von Ein- und Auswanderung, Pull- und
Push-Faktoren nicht völlig an der Realität von Menschen vorbeizielt, die
ihre Lebensmittelpunkte auf zwei oder mehreren Kontinenten verteilen.
Doch nicht nur aus volkswirtschaftlicher Perspektive wird die Frage
immer drängender, ob Europa beim Nachdenken über Migration ein
bestimmtes ethisches Mindestniveau erreicht, das zum Aufrücken auf die
nächste Stufe der Globalisierung qualifiziert. 

Ein erster Schritt könnte in einer grundlegenden und wenn dann eher
humanistischen als humanitären Einsicht bestehen: Jeder Mensch ist ein
Experte. Jeder Mensch spezialisiert sich im Laufe eines Lebens, und die
Vielfalt dieser Besonderheiten macht den Reichtum und die Produktivität
eines sozialen Gefüges aus. Menschen, die dermassen viel
Vorstellungskraft haben, dass sie ihre vertraute Umgebung aufgeben, um
sich in der Fremde behaupten zu wollen, müssen allemal Experten sein.
Sie zeichnen sich durch geistige Beweglichkeit aus, sowie
Anpassungsfähigkeit und die Hartnäckigkeit, Grenzen auch wirklich zu
überwinden. Da spielt es eine untergeordnete Rolle, welchen Abschluss
sie in der Tasche haben, wieviel sie verdienen mögen und weswegen sie
sich auf den Weg gemacht haben. Sie müssen sich, auf wenigstens eine
Sache spezialisieren, die unter Alteingesessenen Mangelware ist und im
Jargon der neuen Unternehmenskultur "Interkulturelle Kompetenz" heißt. 

Weltoffenheit ist eine Spezialkenntnis, die erfahren werden muss. Alles
weitere läßt sich mit etwas Begeisterungsfähig schnell aneignen. Wer
weiß denn heute noch, ob die Küchenhilfe nicht nach Feierabend  C++
programmiert? Und was ist schließlich der Unterschied zwischen
Pizza-Austragen und Skripten für e-Commerce-Lösungen schreiben? Menschen
jedoch vorschnell in nützlich oder unnütz einzuteilen, ist ein Schuss,
der nach hinten losgehen wird und im besten Falle ziemliche
Ahnungslosigkeit über die eigentliche Dynamik der globalen
Informationsgesellschaft offenbart.

FLORIAN SCHNEIDER

----------------------------------------------------------
# rohrpost -- deutschsprachige Mailingliste fuer Medien- und Netzkultur
# Info: majordomo@mikrolisten.de; msg: info rohrpost
# kommerzielle Verwertung nur mit Erlaubnis der AutorInnen
# Entsubskribieren: majordomo@mikrolisten.de, msg: unsubscribe rohrpost
# Kontakt: owner-rohrpost@mikrolisten.de -- http://www.mikro.org/rohrpost