Reinhold Grether on 7 Nov 2000 15:37:03 -0000


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[rohrpost] Re: A man says farewell (fwd)


Lieber Florian,

mein Kurs an der Universitaet heisst "Netzliteratur, Netzkunst,
Netzwissenschaft" und ist als Ueberblicksveranstaltung gedacht.
http://www.netzwissenschaft.de/sem.htm
Aus persoenlichen Gruenden musste ich mich vor einem Jahr
aus der Netzliteraturszene verabschieden, und ohne akademische
Verpflichtung haette ich mich dem Schmerz der erneuten
Zuwendung nicht ausgesetzt.
Wenn Du einen Blick auf das Beamermaterial vom 30.10.
wirfst http://www.netzwissenschaft.de/sem/netlit.htm
- ich verwende sowas als Erinnerungsmarken fuer meine frei
gesprochenen Vortraege - siehst Du genau die Stelle, an der
ich mir bei der Vorbereitung mit dem rohrposting
"Methodologie der Netzwissenschaft" vom 27. Oktober
eine kleine Verschnaufpause goennte.

Meine Interessen haben sich immer mehr in Richtung
Netzwissenschaft verschoben. Um die Brisanz (und
mutmassliche Haltlosigkeit) zu betonen, hier eine
Zentralhypothese.

Anthropologisch entwickeln Menschen eine Fuelle von
Wissensarten, von denen nur einige zu Wissenschaftsformaten
hochprofessionalisiert werden.

So zweigt aus der achsenzeitlich-oekumenischen
Seelenathletik ein Professionalisierungspfad von
Wissenschaft ab, der von der antiken theoria ueber die
artes liberales zu den Geisteswissenschaften fuehrt.
Seelenathletisch wird Welt dabei vollstaendig
eingeklammert und von der Prozessualitaet reinen
Denkens, zunaechst in Form ewiger Ideen, rekonstruiert.

Ein voellig anderer Professionalisierungspfad von
Wissenschaft schliesst an das menschliche
Herstellungswissen an. Hier geht es nicht darum,
Weltgegenstaende als reindenkendes Aussagegefuege
zu rekonstruieren, sondern die Erzeugung von
Weltgegenstaenden durch ein Verfahren vollstaendig
zu kontrollieren. Man kapselt einen Weltprozess ein
und beherrscht ihn, wenn der aus einem Input errechenbare
Output nach Ablauf des Verfahrens vorliegt. Hier
laeuft die westliche Professionalisierungslinie von der
antiken techne ueber die artes mechanicae zu den
Ingenieurwissenschaften.

Obwohl Menschen immer schon in technischen, symbolischen
und sozialen Netzen lebten, hat sich merkwuerdigerweise
das menschliche Netzwissen nicht zu einer vergleichbaren
dritten Wissenschaftsform professionalisiert. Es wird ein
unerhoert spannendes kollektives Forschungsunternehmen
werden, das die Ansaetze von Netzwissenschaft in
seinen subkulturellen, okkulten usw. Ausformungen
untersucht. Einen ernstzunehmenden Professionalisierungspfad
sehe ich zur Zeit erst seit dem 17. Jh. (mit Soziologie als
einer Folge).

Die Spekulation geht dann dahin, dass die Protuberanz
technischer Netze, deren Zeuge wir sind, der Professionalisierung
von Netzwissenschaft einen gewaltigen Schub verschaffen wird.
Sollte das der Fall sein, wird die Wissenschaftslandschaft
gewaltigen Erschuetterungen ausgesetzt sein, und die Impulse
der Netzwissenschaft werden zu voellig neuen Formen des
vernetzten Lehrens und Lernens fuehren.

Man koennte sich eine friedliche Koexistenz von Geistes-,
Ingenieur- und Netzwissenschaften ertraeumen. Ich fuerchte,
dass es dazu nicht kommen wird. Denn, wie schon Gotthard
Guenther in seinem massgebenden Aufsatz "Maschine, Seele
und Weltgeschichte" gezeigt hat, war der vorinformatische
Geist eine Residualkategorie, die unerhoert viele formalisierbare
Anteile enthaelt, die als ausgelagertes selbstprozessierendes
"Bewusstsein" (als "reine selbstausfuehrende Schriftlichkeit",
wie ich sage) rein technisch und eben nicht geistfoermig
funktionieren. Guenther vermutet, dass die informatische
Entmythologisierung von Geist ueberhaupt erst eine
nichtformalisierbare rein spirituelle Kraft zur Erscheinung
bringen wird. Ich schliesse das nicht aus, glaube aber, dass
dieser "spirituelle Rest" keine wissenschaftsbildende Kraft
mehr sein wird.

Guenther, der seine kybernetikgeschulten Thesen Ende der
siebziger Jahre in dem genannten Aufsatz zusammenfasste,
hat den Geist durch seine technische Reproduzierbarkeit
unter Druck gesetzt. Ich bin der Auffassung, die Weltrevolution
der Netze und die sich damit professionalisierende
Netzwissenschaft wird dem Geist noch einmal zusetzen.

Aus diesen Ueberlegungen heraus, rechne ich mit dem Ende
der Geisteswissenschaften als Wissenschaftsform. Mag
anthropologisch eine neue Spiritualitaet entstehen, das
kuenftige Wissenschaftsfeld gehoert den Ingenieur- und
Netzwissenschaften, die die ihnen entsprechenden Partien
der Geisteswissenschaften methodologisch umformulieren
und einverleiben werden.

Wissenschaftspolitisch ist es ein Unding, eine auf der
Archaik der Buchkultur sitzengebliebene Wissenschaftskaste
weiterzusubventionieren, deren Gegenstand nur noch in
Ausformulierungen persoenlicher Idiosynkrasien besteht.
Nichtinformatisiertes Wissen hat keinen Anspruch auf
Wissenschaftlichkeit mehr. Die 68er haben die
Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften
forciert. Jetzt geht es darum, die GeisteswissenschaftLER
aus der Wissenschaftssubvention herauszunehmen und auf
Einwerbung von Eigenmitteln zu verpflichten.

Meine im Aufbau befindliche Webseite
http://www.netzwissenschaft.de/ ist ein erster Versuch,
das Wissenschaftsfeld der Netzwissenschaften zu umreissen.
Dabei geht es in einem ersten Schritt nur einmal darum,
wenigstens das Wissenschaftsfeld der Internet Studies
zusammenzuhalten.

Geht meine Spekulation auf die Entwicklungsdynamik
von Netzwissenschaft auf, dann wird nach und nach das
Insgesamt anthropologischer Konnektivitaet
netzwissenschaftlich rekonstruiert.

Ich hoffe, damit den Hintergrund fuer die strategisch weit
gefasste Netzliteraturdefinition erhellt zu haben.
("Netzliteratur ist künstlerische Umcodierung von
Vernetzungscode, sei dies Maschinen-, Protokoll-,
Betriebssystems-, Software-, Browser-, Darstellungs-,
Sprach-, Erzähl-, Kontext-, Sozial-, oder Kulturcode.")
Tatsaechlich kommt es darauf an, alle "geistigen
Gegenstaende", darunter traditionelle Literatur, auf
das in ihnen hinterlegte Netzwissen hin zu untersuchen.
Soweit traditionelle Literatur technische, symbolische
und soziale Vernetzungen exponiert, partizipiert sie
an Netzliteratur, innerhalb derer Telekommunikationsliteratur
und Computernetzliteratur weitere Untermengen darstellen.

In diese Richtung geht die Umqualifikation bisheriger
Geisteswissenschaftler: alle Gegenstaende der
Tradition sind daraufhin zu untersuchen, was an ihnen
formalisierbar ist (pionierhaft: Deine Permutationen)
und was sie ueber technische, symbolische und soziale
Vernetzung wissen. Man erschliesst retroaktiv eine
Archaeologie der Konnektivitaet und proaktiv eine
Futuristik des Nichtformalisierbaren.

(Wer in diesem Programm eine subversive Rettung
der Geisteswissenschaften erkennt, hat mich verstanden.
Subversion gibt es allerdings nur auf der Vorderkante
von Entwicklungen und nicht in der Selbsteinmauerung
im Abgelebten.)

Die Netzuniversitaet wird kein hierarchischer Betrieb,
sondern ein den gesamten Gesellschaftskoerper
durchdringendes Qualifikations- und Forschungsfeld sein,
wo Leute aus heterogenen Bereichen, die sie
lebensgeschichtlich fortwaehrend wechseln, in immer
anderen Projektgruppen und Netzprojekten
zusammenarbeiten.

Hoehere Verwaltungsangestellte, genannt Professoren,
denen unter heutigen universitaeren Bedingungen das
Ueberspielen der ihnen aufgenoetigten Ignoranz als
Daseinsform zugemutet wird, gibt es dann nicht mehr.
Soviel Unglueck muss nicht sein.

Herzliche Gruesse von Reinhold Grether.


Bibliographische Angabe: Gotthard Guenther, Maschine,
Seele und Weltgeschichte, in: ders., Beitraege zur
Grundlegung einer operationsfaehigen Dialektik. Dritter
Band: Philosophie der Geschichte und der Technik,
Hamburg: Meiner 1980, 211-235.


Florian Cramer schrieb am fruehen Morgen des 7.11.2000:

Prinzipiell stimme ich Dir sehr zu - und ich kenne Deine Definition ja schon
aus dem Böhler/Suter-Buch.

Allerdings stellt sich für mich die Frage, ob "Vernetzungscode" im
allgemeinsten oder nur im speziellen technischen Sinne gemeint ist. Trifft
ersteres zu, so könnte man auch analog übermittelte Formen von Literatur als
"Netzliteratur" definieren, also z.B. literarische Briefe (von Horaz bis
Pynchon), poetische Salons und Performances (von Harsdörffer über Rahel von
Varnhagen bis zur Poetry Slams), Briefromane (einschließlich Goethes
Werther), Mail Art; ja, genau genommen wäre jede Literatur "Netzliteratur",
da sie - als sprachliche Kommunikation - eine Strecke zwischen Sender und
Empfänger über ein Medium zurücklegt und damit Sender und Empfänger
vernetzt. Dein Kriterium, um es absichtlich verkürzt zu zitieren, der
"künstlerischen Umcodierung von [...] Darstellungs-, Sprach-, Erzähl-,
Kontext-, Sozial-, oder Kulturcode" ist ohnehin nicht bloß eine Definition
von Netzliteratur, sondern schlechthin von aller Literatur und Kunst.

Die Unterscheidung zwischen direkter und entfernter Kommunikation
("local area network" und "wide area network") schließlich kann heute nur
noch eine willkürlich festgelegte sein, da seit der Telegraphie
Ungleichzeitigkeit von Senden und Empfang kein Differenzkriterium mehr ist.

Wir könnten "Netzliteratur" empirisch definieren als Literatur, die sich in
ihrem Code - nach den von Dir formulierten Kriterien - auf
Kommunikationsnetze bezieht, die

1. größere Entfernungen überbrücken als die maximale physische Distanz
zwischen zwei Sprechern.

2. im _selben_ Medium eine gleichberechtigte Zwei-Wege-Kommunikation
erlauben und zwischen Sender und Empfänger keine technische Ungleichheit
installieren. (Womit wir den Buchdruck als Kommunikationsnetz ausschließen
können.)

Eine Philologie der Netzliteratur müßte sich also Kommunikationstechniken
wie Rauchzeichen, Morsefunk, Postsystem, Telegraphie, Rohrpost, Telefon,
Telex, Fax und Internet annehmen; in der Tat müßte ihre geschichtlicher
Horizont Antike, Mittelalter und Frühneuzeit einschließen, und "klassische"
Briefliteratur müßte in ihr zentral berücksichtigt werden.

Dennoch sind wir uns ja einig, daß digitale Netze einen entscheidenden
Paradigmenwechsel in der Netzliteratur bedeuten, weil in ihnen der Begriff
des "Vernetzungscodes" viel weitreichender und brisanter ist: Die gesamte
Struktur des Internets ist, wie Lawrence Lessig und andere immer wieder
betonen, codiert; Code (Text) ist also nicht nur, was Übertragen wird,
sondern auch - in Form von programmierten Dämonen, Netzwerkprotokollen und
Router-Firmware - das, was selbst überträgt und den übertragenen Text
manipuliert und generiert. Man müßte also "Netzliteratur" (eigentlich:
"Telekommunikationsnetzliteratur") unterscheiden von "Computernetzliteratur"
und die letztere als Spezialfall der ersteren definieren.





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