Heiko Idensen on 5 Dec 2000 00:47:03 -0000 |
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Die Kuehe haben das Wort Gene, Tiermehl und andere Mitbuerger: Ein Gespraech mit dem Wissenschaftsforscher Bruno Latour Von Elisabeth von Thadden & Ulrich Schnabel DIE ZEIT 49/2000, 30. 11. 2000, S. 67-68 http://www.zeit.de/2000/49/Hochschule/200049_st-latour2.html (am Ende Links zu weiteren Texten von & Interviews mit Bruno Latour) Hinter sieben Treppen und Winkeln der Elitehochschule franzoesischer Ingenieure, in der École des Mines am Pariser Jardin de Luxembourg, sitzt in einem winzigen Arbeitszimmer Bruno Latour und denkt ueber Demokratie und Mischwesen nach. UEber die Frage, wie Menschen kuenftig mit all den Kreaturen und Dingen auskommen koennen, die durch menschlichen Zugriff erst ihre hybride Gestalt erhielten: ob Tiermehl oder wahnsinnige Kuehe, ob Ozonloch oder genetisch manipulierte Organismen. Der Winzersohn Latour lehrt heute nicht nur als Professor der Soziologie in Paris, sondern auch an der London School of Economics. Seit er 1979 mit Steven Woolgar ein grundlegendes Buch ueber die Fabrikation wissenschaftlicher Tatsachen schrieb, irritiert der gelernte Philosoph und Anthropologe das moderne Weltbild der Wissenschaft und verleiht dabei den Begriffen eigensinnig neue Bedeutungen. Mit dem Soziologen Ulrich Beck versteht er sich. Auch seine Arbeiten umkreisen das Verhaeltnis von Natur, Wissenschaft und Politik: Wie entsteht, was wir fuer eine Tatsache halten? In seinem neuen Buch Die Hoffnung der Pandora fragt Latour nun: Was folgt auf die traurige Geschichte der despotischen modernen Vernunft? Und waehrend die Gazetten streiten, ob das Verbot von Tiermehl rational ist, ob das Prinzip der Vorsorge nicht mehr politischen Raum einnehmen muesste, beginnen wir das Gespraech. DIE ZEIT: Jeder scheint heute zu wissen, was Gene sind. Was ist ein Gen fuer den Wissenschaftsforscher Latour? BRUNO LATOUR: Wir haben es wie bei der Auslegung des Evangeliums mit Lesarten zu tun, die sich nicht vereinheitlichen und vereindeutigen lassen. Das Gen ist vielerlei. In Frankreich gibt es zum Beispiel seit Jahren eine Patientenorganisation, die zur Erforschung der genetisch bedingten Krankheit ihrer Mitglieder, der Muskeldystrophie, Millionen an Forschungsgeldern gesammelt hat. Da geht es um ein isolierbares Gen und eine praezise Hoffnung auf Heilung; auf Befreiung. In diesem Zusammenhang treten Gene in der Oeffentlichkeit anders auf als in der Lesart des Oxforder Zoologen Richard Dawkins, der gegen den klassischen Humanismus argumentiert und meint, es seien die "egoistischen Gene", die das menschliche Verhalten bestimmten. Der Populationsgenetiker Richard Lewontin in Harvard hingegen haelt die Informationen der Gene fuer zu unbestimmt, um aus ihnen kausal etwas zu folgern. Waere der Organismus ein Computer, meint Lewontin, haette er ihn laengst weggeworfen, weil sich aus seinen Informationen nichts berechnen laesst. So vielfaeltig wie die Deutungen der Gene, so komplex ist auch ihr Zusammenspiel. Genetiker, die die Karte des Genoms vor sich haben, wissen das selbst am besten. ZEIT: In Hoffnung der Pandora fragen Sie nach der Realitaet wissenschaftlicher Entdeckungen und ueberlegen, ob die Milchsaeurefermente existierten, bevor Pasteur sie entdeckte. Gab es das Humangenom, bevor es entdeckt wurde? LATOUR: Wissenschaftliche Entdeckungen wie die der Gene haengen von einer Ausstattung ab, von Maschinen, Darstellungstechniken, Geldern. Die Tatsachen sind natuerlich objektiv und real, aber ohne ihre Verfertigung im Labor gaebe es sie nicht. Nur im Nachhinein kann man sagen: Die Gene existieren. Es gibt sie nicht ohne die Geschichte ihrer Erforschung. ZEIT: Ist es das, was Sie meinen, wenn Sie schreiben, dass die Wissenschaftsforschung der Wissenschaft Wirklichkeit hinzufuegt? LATOUR: Ja. Wenn ein Genetiker vom Gen spricht, will ich wissen, wie seine Tatsachen zustande kamen. Wer die Umstaende des Forschens nicht hinzufuegt, nimmt durch die Behauptung von Eindeutigkeit und Einheitlichkeit eine reine Position der Macht ein. Nimmt man dem Genetiker sein Labor weg, bleibt von den Genen nichts uebrig. Nimmt man den Oekonomen ihre Rechenmaschinen weg, ergeht es ihnen nicht anders. Die Frage nach der Realitaet des Erforschten finde ich nicht so wichtig wie die andere, ob es demokratisch sozialisiert wird. Mich interessiert, wie sich in der Forschung soziale, ethische, aesthetische, politische, instrumentelle Aspekte durchdringen. Das ergibt eine offene Landkarte vielfaeltiger Handlungen und Verwicklungen. Das Thema der Biomacht, das Foucault aufgeworfen hat, ist Teil einer veraestelten politischen Kultur. ZEIT: Fuerchten Sie nicht, dass die Genetik die politische Diskussion ersetzen koennte? LATOUR: Nein. Die politische Diskussion muss sich nun um die Vorschlaege der Genetik kuemmern. Dafuer muss ein oeffentlicher Raum geschaffen werden, aehnlich wie ein neues Stadtbild Berlins entsteht. Und die Wissenschaft muss vom Anspruch der Autonomie befreit werden. ZEIT: Sie unterscheiden in Ihrem Buch zwischen autonomer "Wissenschaft" und "Forschung", die sich ihrer Abhaengigkeiten und Allianzen bewusst sind. Der Forschung soll die Zukunft gehoeren. Was aendert sich damit fuer den Genetiker? LATOUR: Aendern muss sich weniger seine Arbeitsweise als vielmehr die oeffentliche und humanwissenschaftliche Deutung seiner Arbeit. Die Forscher im Labor wissen genau, wie komplex ihre Abhaengigkeiten sind. Wenn sie sich an ihre Sponsoren wenden, sprechen sie sehr offen ueber Deutungen, Risiken, Mittel und Alternativen. Aber wenn sie ihr Labor verlassen und sich an die Oeffentlichkeit wenden, spricht bisher zumeist der reine Newton aus ihnen. ZEIT: Newton, das heisst: Tatsachen ohne Relativitaet. Eine gereinigte Wissenschaft, frei von Stoerungen und Unsicherheit. LATOUR: Das klassische Paradigma der Moderne eben, das ein einheitliches, von Werten gereinigtes Weltbild hervorbringen sollte. Aber die gegenwaertige Situation ist neu, das zeigen etwa Treibhauseffekt oder Rinderwahnsinn: Wir haben es mit viel mehr divergierenden Expertenmeinungen zu tun und auch mit mehr Forschungsgegenstaenden, die alle prompt ihre Risiken nach sich ziehen. Das Politische zieht in die Wissenschaften ein. In die Dinge selbst. Die Natur ist ein politischer Prozess. ZEIT: Und die Hoffnung der Pandora? LATOUR: Der Mythos besagt doch, dass Pandora die Buechse aus Neugier oeffnet und alle UEbel entfleuchen laesst. Das sind die UEbel der modernen Wissenschaft. Der Mythos besagt aber auch, dass sie die Buechse vor Schreck zu frueh schliesst: naemlich bevor die Hoffnung, die auf dem Boden der Buechse ruht, ins Freie gelangen kann. ZEIT: Welche Hoffnung? LATOUR: Sie besteht in der Vielfalt der wissenschaftlichen Optionen, in der Kontroverse von und mit Wissenschaftlern in der demokratischen Gemeinschaft. Deren vornehme Rolle besteht nun nicht mehr darin, die politische Debatte zum Schweigen zu bringen, sondern darin, stellvertretend und oeffentlich zu sprechen: in einer Art Parlament der Dinge. ZEIT: Was heisst fuer Sie "Dinge"? Sie unterscheiden nicht zwischen Objekten und Subjekten, sondern zwischen Menschen und nichtmenschlichen Wesen. Warum? LATOUR: Ich wollte den alten Gegensatz von Subjekt und Objekt hinter uns lassen. Der isolierte Geist und die kalten, toten Dinge, das ist eine Unterscheidung, die sich Descartes, Kant und der modernen Wissenschaft verdankt, aber sie ist ueberholt. Die Dinge sind zu Hybriden, zu Mischwesen geworden. Menschen und Dinge sind ja ineinander verschraenkt. Wir haengen von ihnen ab, sie wirken auf uns ein. Und bilden mit uns gemeinsam Kollektive. ZEIT: Zum Beispiel? LATOUR: Der Aids-Virus, die Homosexuellen, die Virologen, die Medikamente bilden solch eine Assoziation von Menschen und Nichtmenschlichem. Eine verlangsamende Strassenschwelle, Verkehrsplaner und Autos: noch ein Kollektiv. Je weiter die Technik fortschreitet, desto mehr vermengen sich Dinge und Menschen, die ein gemeinsames Schicksal teilen. ZEIT: Sie sprechen mit Empathie fuer die Dinge. Weil sie sich nicht wehren koennen? LATOUR: Der Oekologie geht es um allerhand Wesen, die von uns abhaengen, Waelder, Gewaesser, Tiere. Die Frage ist nun, welche Politik zu dieser Situation passt. Welche Institutionen wir fuer eine demokratische Politik der Dinge, fuer eine Politik der Natur brauchen. Die Wissenschaftler sind nur Parlamentarier unter anderen inmitten einer Vielzahl von Lobbyisten. Wir muessen klaeren, wer mit in die Arena gehoert. ZEIT: Und wer nicht. LATOUR: Sicher, es wird auch darum gehen, Feinde auszuschliessen, in der Bereitschaft, sie spaeter wieder aufzunehmen. Die wichtigsten Fragen heissen heute: Wer von den Milliarden Wesen, ob menschlich oder nichtmenschlich, wird in Betracht gezogen? Und: Um welchen Preis sind wir bereit, gut miteinander zu leben? Wir haben lange den Frauen und Sklaven das Stimmrecht verweigert. Heute stellt sich die Frage neu, wer es erhaelt und wer nicht. ZEIT: Die Vorschlaege in Hoffnung der Pandora sind nicht eben leicht zu verstehen. Welche Wesen sollen in Ihrem Parlament vertreten sein? Alle Mischwesen vom verschmutzten Wasser ueber das Tiermehl bis zum Chip in der Netzhaut? LATOUR: Das ist genau die Frage. Wir leben in einem gewaltigen Laboratorium - das ist heute die ganze Welt -, in dem viele experimentieren. Da wird an allerhand Dingen gearbeitet, ohne dass wir deren Zustimmung erhalten haetten. Das Tiermehl wurde ja ebenso wenig um seine Meinung gebeten wie die Kuehe. Der Autoverkehr ist ein anderes Beispiel: In diesem Versuch kommen auf den Strassen jaehrlich Tausende von Leuten um. Das scheint ein Experiment zu sein, dem kollektiv zugestimmt wird. Diese Toten gehoeren heute, unausgesprochen, zu den Ausgeschlossenen. Aber gegen ein paar hundert Tote durch den Rinderwahnsinn spricht sich eine Mehrheit aus. ZEIT: Die Arena existiert schon. LATOUR: Ja. Mir geht es nun darum, dass wir nicht laenger sagen, auf die Erhebung der Tatsachen folge die moralische Bewertung, sondern dass wir kollektiv mit den Wissenschaftlern in einem offenen Prozess entscheiden, welche Risiken wir tragen wollen. ZEIT: Ist das Parlament der Dinge nur eine diskutierende Oeffentlichkeit? LATOUR: Nicht nur. Wir muessen kuenftig im globalen Massstab und fuer den Kosmos entscheiden. In welchem Kosmos wollen wir leben? Zur Beantwortung dieser Frage muessen wir neu ueber die Institutionen nachdenken. Ein globales Phaenomen wie die Erwaermung der Atmosphaere ist weltweit schnell begriffen worden. Auch das Prinzip der Vorsorge hat eine rasante Karriere hinter sich. ZEIT: Klar ist das nicht. Plaedieren Sie nicht einfach fuer eine vitale Subpolitik? Also fuer eine entscheidungsfaehige Gesellschaft der Individuen unterhalb der institutionalisierten Politik? LATOUR: Tatsaechlich findet Wissenschaftspolitik heute schon in der Gesellschaft statt. Die Schweiz hat ueber genetische Forschung durch ein Referendum abgestimmt. Jene Patientenorganisation entscheidet ueber die Verwendung von Forschungsgeldern. Und wenn Sie individuell nach einer Diagnose bei einem anderen Arzt eine zweite Expertise einholen, handeln Sie wissenschaftspolitisch. Sie beeinflussen mit ihrer Entscheidung Forschungszweige. ZEIT: Das geschieht alles ohnehin. LATOUR: Wir muessen vor allem konzeptuell nachholen, was schon geschieht. Ich bin gar nicht so revolutionaer, wie manche denken. ZEIT: Was ist nun der Unterschied zwischen Ihrer Politik der Dinge und Habermas' Vorstellung von einer diskutierenden Oeffentlichkeit? LATOUR: Um zum Parlament der Dinge zu gelangen, muss man eine Portion Habermas mit einer Portion Gedanken vermischen, die er entsetzlich faende. Habermas bemueht sich ja gerade darum, die menschliche Kommunikation frei von instrumenteller Vernunft zu halten. Die will ich aber, in einer verwandelten Form, in der Arena laut werden lassen: dadurch, dass stellvertretend fuer die nichtmenschlichen Wesen gesprochen wird. Diese Stimmen mischen sich dann mit den menschlichen Interessen. Fuer Anhaenger von Habermas klingt das monstroes. ZEIT: Fuer Anhaenger der Goetheschen Naturphilosophie eher nicht. LATOUR: Ja, in Deutschland stehen Sie auch in einer Tradition, die den menschlichen Geist nicht verabsolutiert. ZEIT: Wie sollen wir uns denn vorstellen, dass die rinderwahnsinnige Kuh im Parlament der Dinge ihre Stimme erhebt? Und mit uns diskutiert? LATOUR: Nach der Katastrophe des Rinderwahnsinns sind wir klueger als zuvor. Wir haben Tiermehl verfuettert - aber haben wir zuvor nach der Meinung der Konsumenten gefragt? Wir haben auch die Kuehe nicht gefragt, ob sie Tiermehl fressen wollen. Sie haben nicht das Recht, sich zu aeussern, wir haben einfach ein unkontrolliertes Experiment mit ihnen durchgefuehrt. Wir muessen also ein Verfahren finden, die Kuehe und die Konsumenten zu Wort kommen zu lassen. Bisher hat nur die instrumentelle Vernunft gesprochen mit Argumenten wie dem, das Tiermehl sei effektiver. Nun brauchen wir Assoziationen, die vor einer Katastrophe praeventiv beraten und entscheiden. Das Parlament der Dinge stellt die Balance zwischen Menschen und nichtmenschlichen Wesen wieder her. ZEIT: Jeder, der die Kuh sprechen laesst, spricht mit eigenen Interessen. Als Konservativer, als Gruener, als irgendwer, aber als Mensch. LATOUR: Wie bei jedem politischen Problem. ZEIT: Aber dann sind wir wieder mitten in der Verstaendigung unter Menschen, in der Intersubjektivitaet angelangt. LATOUR: Nein, in der Verstaendigung mit den Dingen, in der Interobjektivitaet. ZEIT: Wie hoere ich im Stimmengewirr der Interessen ausgerechnet die Stimme der Kuh? LATOUR: Indem sie Thema ist, und durch die verschiedenen Faerbungen der Meinungen hindurch vernehmen Sie auch die Kuh. Das Entscheidende ist fuer mich, dass die Debatte ueber die Kuh nicht mehr auf der Basis feststehender wissenschaftlicher Tatsachen gefuehrt wird, sondern dass die Wissenschaft politisch wird. Jeder Landwirt, jeder Konsument beinhaltet in gewisser Weise nicht nur die Kuh, sondern ein Weltbild, eine Vorstellung von Landschaft, Natur, Gesundheit. Die Situation der Moderne ist vorbei, und also ist auch Ihre moderne Hoffnung ueberholt: den Wissenschaftlern die Kuehe zu ueberlassen und den Politikern die Entscheidungen fuer die Menschen. Jetzt stehen die Kuehe, vertreten durch vielfaeltige Interessen, mitten in der Arena. Die objektive Kuh gibt es nicht. ZEIT: Das ist ein Fortschritt? LATOUR: Ja, weil wir jetzt Kosmologien, Weltbilder gegeneinander diskutieren. Es ist ein Krieg der Welten. Zwischen verschiedenen Auffassungen vom Gehirn, von den Genen, vom Tier, von der menschlichen Gesundheit. ZEIT: Wenn die nichtmenschlichen Wesen nicht fuer sich selbst sprechen koennen, wie steht es dann mit den Menschen? Koennen die es? LATOUR: Auch nicht. Sie sprechen abhaengig von Einfluessen. Ich behaupte doch nicht, dass die Tiere wie im Maerchen ihre Stimme erheben. Aber die Menschen sprechen durch Vermittlungen. Gaebe es keine Fluesse, koennten wir nicht von Fluessen sprechen. Menschen ohne Aussenwelt gibt es nicht, die Worte vermitteln immer etwas, das auf Menschen wirkt. ZEIT: Das symbolische Wesen ist der Mensch. Niemand sonst. LATOUR: Aber er spricht nicht aus heiterem Himmel. Wenn die Menschen heute finden, Huehner sollten frei laufen koennen und Flussbetten sollten nicht begradigt werden - dann zeigt das, dass ihre Worte und Werte in einer Wechselbeziehung mit den Dingen stehen. Denn in Zeiten der Massentierhaltung oder Flusskorrekturen haben sie das anders gesehen. Wir wissen heute mehr ueber die Lebewesen, das wirkt auf unsere Haltungen zurueck. ZEIT: Wie steht es um die technologischen Hybriden wie den Netzhautchip? Gehoeren sie auch ins Parlament der Dinge? LATOUR: Ich habe nichts gegen die Technik. Das ist eher eine deutsche Angst. ZEIT: Aber Sie erfinden die Politik der Dinge doch, damit wir die globalen Schaeden baendigen, die Menschen anrichten. Haben wir ein Interesse daran, alle Innovationen zu vertreten? Auch jene, die den Menschen kuenstlich werden lassen, jedenfalls eine Minderheit der Menschen? LATOUR: Kuenstlichkeit ist kein Kriterium, das mich interessiert. Ob der Kosmos aus Monstern besteht, das ist entscheidend. ZEIT: Was sind Monster? LATOUR: Monster sind Konstruktionen aus technischen Objekten, die man fuer beherrschbar und berechenbar haelt. Das ist die Figur des Cyborg, die viele Postmoderne feiern. Hybride hingegen sind Mischungen aus menschlichen und nichtmenschlichen Wesen, die nicht beherrschbar, die dynamisch sind. Und also Vorsicht erfordern. Erst wenn wir technische Innovation sozialisieren, verwandeln wir Monster in Wesen. Das heisst auch, sie der demokratischen Entscheidung zu unterziehen. Wir muessen die Technik erziehen. Das ist die Lehre aus der Geschichte von Frankenstein: Sein Fehler ist nicht, dass er eine kuenstliche Kreatur schafft, sondern dass er sie entsetzt im Stich laesst. Das ist das Verbrechen, erst so wird sie gefaehrlich. Sie kann nicht mehr sozial werden. ZEIT: Aehnelt unsere Situation nicht vielmehr der des Zauberlehrlings, der die Geister nicht mehr los wird, die er rief? Wir spielen fortgesetzt Gott, entscheiden etwa ueber das Abschalten von Maschinen, die Fruehgeborene am Leben halten. Der Zauberlehrling steht vor Herausforderungen, die zu gross fuer ihn sind. LATOUR: Keine ist zu gross fuer ihn. Die Frage ist, ob der Zauberlehrling einen Nestor hat, der ihm beisteht. Der Nestor ist die Demokratie. Oder um mit dem Mythos der Pandora zu sprechen: Eine Demokratie muss auf dem Boden der Buechse nach der verbleibenden Hoffnung suchen. Wenn ich die Wahl habe zwischen den Posthumanisten, die den Cyborg feiern, und der prometheischen Haltung, der keine Herausforderung zu gross ist, entscheide ich mich fuer Letztere. ZEIT: Demokratie ist ein zu allgemeiner Begriff angesichts von Entscheidungen ueber globale Risiken, ueber die Fortsetzung von Leben. LATOUR: Ich will nur sagen: Solche Entscheidungen duerfen nicht allein von einer Lobby getroffen werden. Nicht allein von den Medizinern oder Patientenorganisationen, den Priestern oder Rabbinern, den Biologen oder Politikern. Die Frage, ob man Embryonen nehmen darf, um Parkinson-Kranke zu heilen, muss in der grossen Arena entschieden werden. Aber ein Grund, warum diese Fragen so schwer zu entscheiden sind, liegt darin, dass wir bisher zwischen Tatsachen und Werten unterschieden haben. ZEIT: Die Qualitaet der Entscheidung haengt auch davon ab, wie viele Alternativen in der Diskussion zugelassen sind. LATOUR: Es gibt ja Biologen, die ein Moratorium in der Embryonenforschung fordern, um in der Zwischenzeit bessere Alternativen erarbeiten zu koennen. Wir muessen mehr Forschungszweige eroeffnen, damit wir die besten Entscheidungen treffen koennen. ZEIT: Nach welchem Kriterium entscheiden Sie sich gegen eine Option? LATOUR: Jeder, der seinen Forschungsgegenstand als risikolos und beherrschbar beschreibt, sollte keinen Sou Unterstuetzung bekommen. ZEIT: Wer hat die Geduld und Zeit, um der Langsamkeit neuer Verfahren zu trauen? LATOUR: Eine oeffentliche Meinung zu bauen ist so muehsam wie die Arbeit im Labor. Aber es sind gegenwaertig genug Kontroversen auf dem Tisch, um wissenschaftspolitische Alternativen zu formulieren. Eine Schwierigkeit liegt natuerlich darin, dass wir gleichzeitig in verschiedenen Zeiten leben. Es gibt Buerger, die wissen wollen, was sie essen, es gibt die ueberzeugten Postmodernen, die sich gern als artifizielle Monster sehen, es gibt die eingefleischten Modernen, die an der wertfreien Tatsaechlichkeit der Natur festhalten. ZEIT: Sie schrieben, der Fall der Berliner Mauer zum 200. Geburtstag der Franzoesischen Revolution waere umsonst gewesen, wenn wir nicht begriffen, dass wir den Naturalismus hinter uns lassen muessen. Also den Glauben an die Tatsachen, der im Namen der Natur die Politik zum Schweigen bringt. Ist die Mauer umsonst gefallen? LATOUR: Nein, der Naturalismus ist besiegt, seitdem wir es oeffentlich mit genetisch manipulierten Organismen zu tun haben. ZEIT: Das wuerde nicht jeder so sehen. LATOUR: Vielen Humanisten ist die Welt verloren gegangen, sie kennen sie nicht mehr gut genug. Ich verstehe nicht, wie Anthropologen noch behaupten koennen, es gaebe keine Beweise dafuer, dass unser Verhalten auch auf biologischen Grundlagen ruht. Das ist schlicht eine naturwissenschaftsfeindliche Haltung. Aber ich stehe zwischen den Fronten. Wir duerfen andererseits die Genetiker nicht verdummen lassen, indem wir sie ihre Arbeit fortsetzen lassen, ohne ihnen mehr Wirklichkeit zu verleihen und sie zu demokratisieren. Es ist wie mit dem Feminismus: Die Maenner werkeln weiter wie bisher, wenn Frauen ihnen ihr Feld nicht streitig machen. Die Naturwissenschaftler arbeiten auch einfach weiter, wenn man sie nicht sozialisiert. Auf Deutsch sind folgende Buecher von Bruno Latour erhaeltlich: Die Hoffnung der Pandora Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft; aus dem Englischen von Gustav Rossler; Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000; 387 S., 56,- DM Wir sind nie modern gewesen Versuch einer symmetrischen Anthropo- logie; aus dem Franzoesischen von Gustav Rossler; Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 1998; 208 S., 19,90 DM Der Berliner Schluessel Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften; aus dem Franzoesischen von Gustav Rossler; Akademie Verlag, Berlin 1996; 276 S., 48,- DM Latours juengstes Buch ist noch nicht uebersetzt: Politiques de la nature Comment faire entrer les sciences en démocratie; La Découverte, Paris 1999; 382 S., 145,- Franc (c) DIE ZEIT 49/2000 **** Links und weitere Texte im Netz zu Bruno Latour: homepage http://www.ensmp.fr/~latour/ artikel: http://www.ensmp.fr/~latour/ARTICLES.html insbesonders: Let's us not overlook the earthworm Pontoscolex Corethrurus A piece prepared for the Berlin 7 Hills Exhibit Catalog edited by J. Joerges http://www.ensmp.fr/~latour/artpop/P-83VER.html Body, cyborgs and the politics of incarnation Darwin Lecture given at Darwin College, Cambridge 19th of February 1999 http://www.ensmp.fr/~latour/artpop/P-80CYBORGS.html Ein Ding ist ein Thing - a (Philosophical) Platform for a Left (European) Party A paper presented in Koln to the meeting on the Innovation in Science, Technology and Politics " organized by the Friedrich Ebert Stiftung, May 1998 http://www.ensmp.fr/~latour/artpop/p76.html Two writers facing one Turing test A dialog in honor of HAL between Richard Powers and Bruno Latour http://www.ensmp.fr/~latour/artpop/p72.html An Interview with Bruno Latour T. Hugh Crawford Virginia Military Institute Configurations, 1993, 1.2:247-268 http://muse.jhu.edu/demo/configurations/1.2crawford.html Das Netz als Diskursmaschine Mercedes Bunz 26.06.2000 Netztheorie mit "Preferred Placements (kann man eine Netztheorie entwickeln, die nicht nur das Medium beschreibt, sondern auch die Theorie erweitert? Der Sammelband "Preferred Placements" versucht es) (enthaelt weiterfuehrende Links) http://www.ix.heise.de/tp/deutsch/inhalt/buch/3540/1.html GRENZEN DES WISSENS - GRENZEN DER WISSENSCHAFTEN? Über die Schwierigkeiten des Tunnelbauers beim Graben Bernd Lutterbeck http://www.ig.cs.tu-berlin.de/bl/008/index.html Bruno Latour, Ausschnitte aus und Materialien zu seinem Text " Arbeit mit Bildern oder: Die Umverteilung derwissenschaftlichen Intelligenz" (Dieser, im folgenden dargestellte Text entstammt wie auch die anderen Texte, auf die hingewiesen wird, dem Buch: Bruno Latour, Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften. Berlin: Akademie Verlag 1996.) http://phaidon.philo.at/pub/german.cgi/d29802/Latour1.html Christian Fuchs - Die Actor-Network-Theory http://stud4.tuwien.ac.at/~e9426503/technsoz/actornetwork.html ---------------------------------------------------------- # rohrpost -- deutschsprachige Mailingliste fuer Medien- und Netzkultur # Info: majordomo@mikrolisten.de; msg: info rohrpost # kommerzielle Verwertung nur mit Erlaubnis der AutorInnen # Entsubskribieren: majordomo@mikrolisten.de, msg: unsubscribe rohrpost # Kontakt: owner-rohrpost@mikrolisten.de -- http://www.mikro.org/rohrpost