Krystian Woznicki on 11 Jul 2001 09:15:09 -0000


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[rohrpost] Berliner Gazette, 11.07. [wallraff]


Live bei Giga TV !
oder: >>Welcome to the real world.<<

[ ] Protokoll: Ada01 aka Anne Schreiber, Journalistin [1]

Eigentlich interessiere ich mich nicht fuers Fernsehen. Mein Computer ist
mir Bildschirm genug. Die Entscheidung, vier Wochen bei der
Internetfernsehsendung Giga [2] in Duesseldorf dabei zu sein, begruendete
sich aber ihrerseits auf Gefuehlen des Ueberdrusses. Wenn wie bei meinem
Studium die Tage erst nach Mittag beginnen und einzig die lose verstreuten
Seminare so etwas wie einen geregelten Alltag erkennen lassen, kommt jenes
Gefuehl auf, das Arbeitslose gut kennen muessten. Ich wollte raus aus
diesem nebuloesen Zwischenzustand, und dafuer brauchte ich einen Alltag,
der mein Leben organisieren und straffen wuerde.

Anfangs hatte ich jedoch Schwierigkeiten, das Wort Giga auszusprechen. Es
passte mir nicht so recht in den Mund und drueckte ein ungewohntes
Lebensgefuehl aus. Aber da eine meiner Hauptaufgaben das Telefonieren war,
blieb mir nichts anderes uebrig, als es gerne und gut artikuliert in den
Mund zu nehmen, um mit meiner neuen Identitaet als Ada01 mental und
koerperlich zu verschmelzen. Fuer vier Wochen war ich Teil der Giga
Community, der >Generation@< der 14 - 29 Jaehrigen, die jeden Tag
die >laengste Internetparty< der Welt via Fernsehen und Internet feiert.
Alle waren nett und schienen viel Spass zu haben. Hier war eine schoene
neue Welt, in der die Leute jeden Tag das machen durften, was sie auch zu
Hause machen wuerden: Am Computer sitzen, basteln, chatten, Games
austauschen, surfen und smoothe Musik hoeren. [3]

Giga, das war fuer die meisten auch ausserhalb der Arbeitszeiten ihr
liebstes und wohl einziges Hobby. Der nette MC Moritz, mit dem ich jeden
Tag zum Studio fuhr, schaut noch abends wenn er nach Hause kommt, welcher
Star am naechsten Tag zu Gast ist. Und bleibt danach fuer Stunden im Chat.
Carsten, der von seiner Karriere bei einer Versicherung abgekommen ist,
wollte es lieber mit einem Casting versuchen um den aufregenden Job als
Gigaredakteur zu bekommen. Er trifft sich jetzt abends mit seinen
beruehmten Freunden aus dem Studio. Alles kein Problem. >Das New Media
Center, in dem Giga jeden Tag entsteht, ist eine Mischung aus
Kreativ-Werkstatt, Loft und High Tech-WG<, informierte mich in den ersten
Tagen ein Fact Sheet.

Also feiert man wie in allen >richtigen< Start Ups und anderen
postindustriellen E-Plattformen die Aussoehnung von Arbeit und Freizeit.
Den Hype vermarktet jeder Einzelne direkt im Buero. Oder bei Giga im High
Tech Loft. Gesponsert von medienwirksamen Klamottenmarken fuehrt die
kompetente und natuerlich lustige Netzreporterin die Stimmung vor. Der
Redakteur, der die erste Morgenkonferenz leitet, spricht zu uns als stuende
er vor laufender Kamera. Er uebt fuer den Abend, denn kurz vor Sendeschluss
duerfen alle ins Studio und live gefilmt werden. Aber anders als vor der
Glotze musste ich hier in der Konferenz zuruecklaecheln. Es fiel mir schwer
an jenem Morgen und immer schwerer an den darauffolgenden Tagen. Irgendwann
erinnerte mich die Arbeitsweise der Community, das stundenlange Operieren
am Bildschirm zumindest, an das Bild eines Hackers: Was die Redaktion mit
ihren bestellten Pizzen vor dem PC kultiviert, laesst sich wie die
kommerzielle Version Linuxscher Arbeitsweisen lesen: >Open-source
communities [...] are fascinating social structures. Similar communities
could one day produce more than just good code.< [4]

Wenn dann am spaeten Nachmittag die Sonne raus kam, wurden die Fenster im
Grossraumbuero der Giga Redaktion abgedichtet. Damit man das auf dem
Bildschirm besser sehen konnte? Der Innenraum des Studios absorbierte die
gesamte Aufmerksamkeit. Auf den Tischen der Moderatoren stapelten sich
Stofftiere, Fussballplaketten und weitere Elementarteilchen der
Wissensgesellschaft. An den Waenden: feuchtfroehliche H&M Bikini Models
oder einfach nur Britney Spears. Und alle wollten sie live dabei sein, wenn
das, was in dem grauen Sendegebaeude passierte, durch die Kanaele und Kabel
in die Wohnungen und auf die Bildschirme geschickt wurde. The future is
you! sagt mir die Giga Homepage. Ich denke: Get ready. [5]

1. mailto:anne.schreiber@student.hu-berlin.de
2. http://www.giga.de
3. http://www.dilbert.com
4. http://www.heise.de/tp/deutsch/kolumnen/mar/7623/1.html
5. http://www.getreadynow.de

Und hier, wie jede Woche, ein paar ausgewaehlte Veranstaltungshinweise fuer
die kommenden Tage:

Do - 12.07.

W e r k s t a t t g e s p r a e c h : Willkommen in den Arbeitsraeumen des
Design-Bueros >ecke:design< in Berlin. Anhand aktueller
Entwurfs-Umsetzungen, wie z.B. dem soeben fertiggestellten touristischen
Informationssystem fuer Potsdam oder Ausstellungsdesign fuer die Slawenburg
Raddusch oder Konzept und Gestaltung der Public Design-Messe, gibt das
Buero Einblick in systemgesteuerte Designentwicklung. Ort: ecke design,
Reuchlinsstr.10-11, Aufgang M, Eingang Kaiserin-Augusta-Allee 10, 19 Uhr.

Fr - 13.07.

J u b i l a e u m : Was wuerde Guenter Wallraff in der New Economy machen?
Auf diese Frage geben AutorInnen der Berliner Gazette spekulative Antworten
in diesem Monat. Wallraff als Mitarbeiter beim interaktiven
Jugendfernsehen? Wallraff als Transfer-Manager im Fussballgeschaeft? Doch
laesst sich nicht alles in Worte fassen. Wallraff als Taenzer auf Pink Slip
Parties!!! Feiern als Recherche, die Party als Sozial-Wissenschaft! Seien
Sie also dabei, wenn die Berliner Gazette [http://www.berlinergazette.de]
anlaesslich ihres zweijaehrigen Bestehens zur Jubilaeums-Gala einlaedt. Das
Programm mit internationalen KuenstlerInnen, Musikern, Regisseuren, DJs und
Special Guests startet puenktlich mit Schneider TM. Wer an dem Abend nicht
in Berlin ist, kann diese Veranstaltung via Live Stream
[http://www.streamminister.de] im Internet mitverfolgen. Ort: filesharing
[http://www.filesharing.de], Raumerstr.40, 21 Uhr.

Sa - 14.07.

V e r n i s s a g e : Im Kontext der Ausstellungsreihe >Bildarchive< zeigen
die Kunst Werke die neue Arbeit des Berliner Kuenstlers Christoph Keller,
die auf dem Filmarchiv >Encyclopaedica Cinematographica<
basiert. >Encyclopaedica Cinematographica< wurde in den fuenfziger Jahren
am Institut fuer wissenschaftlichen Film in Goettingen um den
Verhaltensforscher Konrad Lorenz gegruendet und umfasst mehrere Tausend,
meist zweiminuetige Filme, die, angeordnet in einer Art Matrix, die gesamte
bewegte Welt erfassen sollten. Ort: Kunst Werke, Auguststr. 69, 17 - 21 Uhr.

Bis naechste Woche,

Krystian Woznicki
mailto:krystian@snafu.de

PS: Paulina Borsook hat fuenfzehn Jahre lang fuer die High-Tech-Industrie
im Silicon Valley gearbeitet und schreibt regelmaessig fuer >Wired< und
dessen Websites sowie fuer >Mother Jones<, >Hot Wired< und >suck<. In ihrem
just erschienenen Buch >Schoene neue Cyberwelt< rechnet sie mit der
boomenden Cyberkultur samt ihrer Protagonisten ab, die von der Befreiung
von allen Fesseln jedweder Ordnungssysteme traeumen und den Computer fuer
das Allheilmittel der Zukunft halten. Respektlos deckt Borsook die
Hintergruende ihrer sogenannten technolibertaeren Gesinnung auf und
demontiert die digitale Elite in ihrem grenzenlosen Ueberlegenheitsgefuehl.
Dabei verfolgt die in Santa Cruz, Kalifornien, lebende Autorin, eine
zentrale Frage: Haben uns die Technokraten der Computerindustrie laengst in
der Hand? Als Silicon-Valley-Insiderin schildert sie, wie eine digitale
Elite, die unsere gewachsene Kultur, unsere Geschichte und unsere
politisch-gesellschaftlichen Werte ignoriert, die geistig-intellektuelle
Elite immer mehr verdraengt. - Eine Leseprobe [1] ist im Internet abrufbar.

1. http://www.dtv.de/bestand/24255_lese.htm

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