Ralf Knüfer on 14 Jul 2001 08:57:32 -0000 |
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[rohrpost] Raum außerhalb des Spektakel- Systems |
Die Sonne hat gesiegt Was erscheint, das ist gut: Philosophen und Globalisierungsgegner entdecken den Situationisten Guy Debord neu http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/artikel59765.php „Arbeitet nie!“ Als der Philosoph, Bohemien, Politaktivist und Filmregisseur Guy Debord sich am 30. November 1994 mit einem Gewehr ins Herz schoss, waren die Häuserwände des Athener Studentenviertels Exarchia voller Worte aus dem Werk des Toten. Dabei war seine große Zeit lange vorbei: Die Welt trauerte um einen der wichtigsten intellektuellen Inspiratoren der 68er-Bewegung, einen der großen frühen Medientheoretiker. Seither ist das wieder erwachte Gespräch über Debord nicht mehr abgerissen: Internet- Suchmaschinen bieten mehr als 8000 Ergebnisse an. Will man die finnische, die kastilische oder doch die deutsche Version eines seiner Texte? Will man arabische Sekundärliteratur zur Kenntnis nehmen, japanische? Alles ist verzeichnet. Doch das Netz bleibt oft so ungelesen, wie es enzyklopädisch ist. Jetzt hat das Magazine Littéraire (No. 399) Debord ein fünfzig Seiten starkes Dossier gewidmet und ihn damit nachdrücklich zur Entdeckung empfohlen. Baudrillard, Sollers und andere kommen zu Wort. Im Zentrum des Heftes steht „Die Gesellschaft des Spektakels“, erschienen 1967, danach bald als Raubdruck Kultgegenstand und 1996 bei Edition Tiamat neu auf deutsch herausgekommen. Das Spektakel? Es ist „Information oder Propaganda, Werbung oder unmittelbarer Konsum von Zerstreuungen.“ Es ist das Bild der Gesellschaft, wie sie es von sich selber zeichnet: „Das Spektakel stellt sich als eine ungeheure, unbestreitbare und unerreichbare Positivität dar. Es sagt nichts mehr als: , Was erscheint, das ist gut; und was gut ist, das erscheint.‘“ Was nicht erscheint, ist schlecht. Wer den Raum des Spektakels betritt, kommt in ein wertfreies, tautologisches Reich der unendlichen Affirmation. Indem sie ständig glänzende Ereignisse offeriert, trocknet die Gesellschaft des Spektakels den Raum für Gedanken aus. Kritik wirkt wie Gemurmel übellauniger Kleingeister. Das Spektakel zieht alle Aufmerksamkeit auf sich: „Es ist die Sonne, die über dem Reich der modernen Passivität nie untergeht. Es deckt die ganze Oberfläche der Welt und badet sich endlos in seinem Ruhm.“ Wer heute die „Gesellschaft des Spektakels“ liest, reibt sich die Augen. Debords Stichwort war nicht „Massenkommunikation“, nicht „Wunsch- Maschine“, nicht „Eindimensionalität“, doch stellt Frédéric Martel ihn zurecht in eine Reihe neben Marshall McLuhan, Deleuze und Marcuse. Mit dem ersten Teil seines Buchs hat Debord Ende der sechziger Jahre, also lange vor dem Zeitalter des Infotainments, des Kabelfernsehens und des Werbebombardements heutiger Ausprägung eine suggestiv-bilderreiche Beschreibung der Show-Gesellschaft vorgelegt. Weit davon entfernt, das Spektakel als „Schein“ zu mystifizieren, beharrt der unkonventionelle Marxist Debord auf dessen materieller Existenz: „Das Spektakel, das das Wirkliche verkehrt, wird wirklich erzeugt.“ Die Gesellschaft braucht es, es hat eine definierbare Funktion: „Als unerlässlicher Schmuck der jetzt erzeugten Waren, als allgemeine Darstellung der Rationalität des Systems und als fortgeschrittener Wirtschaftsbereich, der unmittelbar eine wachsende Menge von Objekt-Bildern gestaltet, ist das Spektakel die hauptsächliche Produktion der heutigen Gesellschaft.“ Nein, das Spektakel ist nicht künstlich: „Es ist der getreue Widerschein der Produktion der Dinge.“ Yan Ciret feiert den charismatischen Theoretiker Debord als Exponenten der poésie vécue, der in der Tradition französischer Moralisten wie La Rochefoucauld oder Lautréamont, Widerstand geleistet habe gegen die Vereinheitlichung des Denkens in einer Gesellschaft, von der dann auch er benutzt worden sei. Ciret leitet Debords Thesen wie üblich vom „Lettrismus“ her, einer anarchischen Folgevereinigung des Surrealismus, die zum ersten Mal Aufsehen erregte, als vier ihrer Mitglieder 1950 als Dominikanermönche verkleidet in Notre-Dame-de-Paris den Gläubigen den Tod Gottes bekannt gaben. 1951 begegnet der 20jährige Debord am Rande des Festivals von Cannes, wo er, der Pariser Bürgersohn aus dem grünen Viertel um die Buttes Chaumont, damals lebte, dem Vater des Lettrismus, Isidore Isou alias Isidor Goldstein aus Rumänien, der in Anwesenheit von René Clément und Jean Cocteau seinen ersten Film vorführt. Bald dreht Debord selber Filme – als Teil einer Revolution der Wahrnehmung. 1952: „Hurlement pour de Sade“. Was Debord betrieb, war radikal reduziertes Buchstabenkino. Schon damals war die Störung der Bilder sein Ziel. Debords letzter Film, „in girum imus nocte et consumimur igni“ (1981, „Wir irren bei Nacht im Kreis umher und werden vom Feuer verzehrt“), der vor kurzem in Berlin wieder zu sehen war, beginnt mit fünfzehn Minuten Dunkelheit. Der Wunsch zu schlafen Von Beginn an war der Kunstrevolutionär ein politischer Kopf. Der Gruppe „Sozialismus oder Barbarei“ nahe stehend, einer trotzkistischen Splittervereinigung, der damals auch Jean-François Lyotard angehörte, wurde Debord jedoch schnell zum Außenseiter, der totalitaristische Ideologien als Spektakel verstand und Systeme aller Art ablehnte. Das ließ ihn früh zum Stalin-Gegner und Maokritiker werden. Der mit nietzscheanischem Größenwahn, aber auch mit dessen Witz ausgestattete Debord wird neben Asger Jorn zum führenden Mitglied der „Situationistischen Internationale“, die mit den Künstlergruppen „Cobra“ und „Spur“ verbunden ist. Politisch forderten die Situationisten Arbeiterräte, Selbstbestimmung und empfahlen wilde Streiks. Entscheidend war die Guerilla- Taktik. Als Mittel dazu galten überraschende Aktionen, Gegen-Spektakel. Einer der Schlüsselsätze der Bewegung gehört Debord: „Ein Abenteurer ist der, der dafür sorgt, dass Abenteuer geschehen. Also nicht einer, dem Abenteuer begegnen.“ Führt man Debords analytisch-beschwörende Kritik einer die ganze Welt beherrschenden Spektakel-Gesellschaft mit seinem bohemehaften Lebenswandel, seiner Tendenz zu einer internationalen partisanenhaften Praxis zusammen, so erklärt sich seine Aktualität für die Widerstandsversuche der Antiglobalisierungsbewegung. Zu ihr besteht ein personelles Bindeglied: Der Situationist René Riesel war eine Zeit lang Teil der theoretischen Mannschaft José Bovés. Doch die Verwendbarkeit Debords scheint richtungsneutral. Aber auch die Rechte um Alain de Benoist und die Verteidiger von Saddam Hussein begreifen seine Medienkritik, die in den späten „Commentaires“ paranoide Züge annimmt, als Theorie der gegen sie gerichteten Weltverschwörung. Wenn Frédéric Martel sich mit Jean Baudrillard, der seine Beiträge aus der Zeitschrift Utopie (1967-1978) jetzt neu herausgegeben hat, unterhält, spürt man Distanz und Nähe zum Objekt. Einerseits setzt sich Baudrillard von der Dialektik ab, die er hinter Debords Konzepten sieht. Andererseits führt er die eigenen Anfänge und jene Debords über die Lektüre von Bataille, Walter Benjamin und der Frankfurter Schule zusammen. Theoretisch gibt er Debord recht: Die Sonne hat gesiegt. Der Raum außerhalb des Spektakel- Systems ist verschwunden. Dieses System hat heute vor allem ein Problem: Es ist „ohne jedes Ziel“. „Das Spektakel“, sagt Debord, „ist der schlechte Traum der gefesselten, modernen Gesellschaft, der schließlich nur ihren Wunsch zu schlafen ausdrückt. Das Spektakel ist der Wächter dieses Schlafes.“ HANS-PETER KUNISCH ------------------------------------------------------- rohrpost - deutschsprachige Liste fuer Medien- und Netzkultur Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost Info: http://www.mikro.org/rohrpost Ent/Subskribieren: http://post.openoffice.de