julia_lazarus on 12 Aug 2001 05:25:03 -0000 |
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[rohrpost] Nach Genua: Offener Brief: Absender: Christian Th., Haftanstalt Alessandria, Italien |
Am Montag dem 13.08 findet die zweite Haftpruefung fuer einige - aber nicht alle - Mitglieder der Volkstheater Kulturkarawane statt, die seit den Ausschreitungen in Genua in Untersuchungshaft festgehalten werden. Nach Aussagen der italienischen Staatanwältin Anne Canepa, wird sich die italienische Gerichtsbarkeit bei ihrer Entscheidung nicht von der "innenpolitischen Polemisierung" in Oestterreich beeinflussen lassen. Im Vorfeld der Verhaftung sind polizeiliche Vormerkungen - Notizen von eifrigen oestterreichischen Volkspolizisten, die nicht juristisch nachgewiesen wurden - aus der EKIS Polizeidatenbank an die italienischen Behoerden weiter- geleitet worden. Diese "Informationen" waren offenbar massgeblich fuer die Inhaftierung der Volxtheater Kulturkarawane in Italien. Die vertraulichen Daten wurden im Zuge des "üblichen" Informationsaustausch innerhalb des Netzwerks europäischer Polizeiorganisationen, das sich laut oe. Innenminister Strasser erst im Aufbau befindet, an die italienischen Behordern weitergeleitet. In Zusammenhang mit den von Schily angeregten Gesprächen zu einem Ausreiseverbot für politisch engagierte Menschen im Vorfeld von zukünftigen Gipfeltreffen, ist dieser Umgang mit personenbezigenen Daten besonders brisant. Laut einem Artikel des Oe. Nachrichtenmagizins "NEWS" vom 9.August beruft sich die italienischen Anklageschrift auf diese Aufzeichnunegn aus der oesterreichischen Polizeidatenbank, und spricht von "penali precedenti", also von "Vorstrafen". Nachdem auch die Gerichte in Goeteburg nicht entsprechend der Sachlage entschieden haben, (Geldstrafen und lange Haft selbst fuer diejenigen, die ihre Schussverletzungen nur knapp ueberlebt haben) kann man sich ungefaehr vorstellen, wie die Entscheidung des italienischen Gerichts ausfallen wird. Im Standard online wurde jetzt ein offener Brief von Christian Thaler veroeffentlicht, in dem er sich unter anderem mit der Praejudizierung durch die oesterreichischen Regierung und Teilen der österreichischen Presse auseinandersetzt. http://derstandard.at/standard.asp?channel=POLITIK&ressort=GIPFEL&id=675636 weitere Informationen: www.no-racism.net/nobordertour ----------------------- OFFENER BRIEF: Absender: Christian Th., Haftanstalt Alessandria, Italien Sehr geehrter Herr Khol! Ich befinde mich sein nunmehr zwei Wochen gemeinsam mit anderen Teilnehmern der “PublixTheatreCaravan / NoBorder - NoNation Tour” in einem italienischen Gefängniss in Untersuchungshaft. Als Gründungsmitglied des “Volxtheater Favoriten” darf ich ihnen mitteilen, dass unser nun auch von Ihnen illegalisiertes Projekt bereits seit dem Jahr 1994 besteht. Wir haben in dieser Zeit etwa Brechts “Dreigroschenoper”, Dario Fos “Bezahlt wird nicht”, Kleists “Penthesilea”, Heiner Müllers “Der Auftrag” sowie die Eigenproduktion “Schluss mit Lustig” als große und erfolgreiche Musiktheaterproduktionen inszeniert. Neben dem Arrangement zahlreicher Liederabende und Klein-Performances haben wir seit 1995 unter dem Titel “Die schweigende Mehrheit” auch immer wieder mit Straßentheateraktionen im öffentlichen Raum interveniert. Am Samstag den 4. August, abends, erhielten wir eine Ausgabe der Salzburger Nachrichten vom 1.8.2001, in der Sie, Herr Khol, mit den Worten zitiert werden: "die (Theater-) Gruppe habe sich immerhin in der Zeitschrift Tatblatt zu Gewaltaktionen bekannt (?)”, auch "gebe es Verbindungen zu Linksextremisten, und eine enge persönliche Beziehung zu den Gewalttätern von Ebergassing.” Zu ersterem möchte ich ausführen, dass wir zur Promotion bisher keine Pressearbeit im herkömmlichen Sinn benötigt haben, um vor ausverkauften Sälen zu spielen, oder hunderte Schaulustige zu unterhalten. Dessenungeachtet hat nicht nur das Tatblatt, sondern haben zahlreiche Zeitschriften und Rundfunkbeiträge unsere Arbeiten rezipiert. Selten wurde dabei unterschlagen, dass wir uns in unseren Stücken auch mit Rassismen, Nationalismen, patriachalen Strukturen oder Ausbeutungsverhältnissen auseinandergesetzt haben. Oder dass wir uns gegen Schubhaft, Deportation und gegen das Grenzregime im Rahmen der “Festung Europa” und damit explizit und immer wieder gegen die alltägliche und institutionalisierte Gewalt in unserer Gesellschaft ausgesprochen haben. Zu zweiterem Vorwurf erscheint es mir einerseits relativ unerheblich, in welcher Form Sie, Herr Khol, den Begriff “Linksextremismus” definieren (ob auf Postbeamte oder UmweltschützerInnen, auf Alternativschulen, BurgschauspielerInnen, HausbesetzerInnen, Datenschützer, GewerkschafterInnen oder Oppositionelle, mit solchen Termini kann bei Bedarf richtiggehend um sich geschlagen werden). Andererseits stellen sich für mich einige persönliche Fragen. Ich habe schon in der Unterstufe eines Realgymnasiums, im Geschichtsunterricht gelernt, in welchem Zusammenhang der Begriff “Sippenhaftung” unter anderem und nicht zuletzt eine gewichtige Rolle gespielt hat: im Nationalsozialismus. Mich würde interesieren, welche Ausbildung sie genossen haben, Herr Khol. Möchten Sie mehr über mich erfahren? Etwa, dass mein Vater sich in den Siebziger Jahren dazu überreden ließ, sich an unwählbarer (wenn ich mich recht erinnere an siebenunzwanzigster) Stelle einer Stadtpartei zu kanditieren. Oder dass meine Mutter es sich noch nie gefallen ließ, wenn sie sich schikaniert fühlte oder Ungerechtigkeit mit ansehen musste, und sowas wie Zivilcourage besitzt? Dass mein Bruder unter anderem auch ein wunderbarer Mensch war? Oder welche Haar- und Hautfarben meine Kinder besitzen? Sie und noch einige ihrer Berufskollegen können sicher noch zahlreiche personenbezogene Daten gebrauchen, um eine Gruppe Kulturschaffender zu diffamieren.So viel Angst haben Sie vor einer kleinen Theaterinitiative. Wir werden uns jedenfalls vor italienischen Gerichten für Konstruktionen, die wohl auch auf Anregung der österreichischen Behörden entstanden sind, verantworten müssen. Davor habe ich keine Angst. Angst habe ich in meinen Träumen, wenn faschistoide Polizisten auf Menschen einschlagen, bis diese zur absoluten Selbstdemütigung bereit sind. Und manchmal auch vor Menschen wie Ihnen Herr Khol. (Es ist schwierig, mir hier in der Haft gesicherte juristische Informationen zugänglich zu machen, und dennoch verbleibe ich in der Hoffnung, Ihnen eines Tages vor Gericht zu begegnen.) Mit freundlichen Grüßen Christian Thaler -- Aufgepasst - jetzt viele 1&1 New WebHosting Pakete ohne Einrichtungsgebuehr + 1 Monat Grundgebuehrbefreiung! http://puretec.de/index.html?ac=OM.PU.PU003K00736T0492a ------------------------------------------------------- rohrpost - deutschsprachige Liste fuer Medien- und Netzkultur Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost Info: http://www.mikro.org/rohrpost Ent/Subskribieren: http://post.openoffice.de