Matze Schmidt on Wed, 31 Oct 2001 22:00:19 +0100 (CET) |
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n0name newsletter #39 Kreuzberg Fr., 29.10.2001 22:59 CET <-------------- Breite: 74 Zeichen - Font: Courier New, 10 --------------> *Inhalt/Contents* 1. Guenther Selichar's _screens, cold_ 2. Interview mit Sascha Buettner (Wiesbaden) 3. Nick. _Roman_ (Fortsetzungsroman) Teil 7 4. Sampler 5. Sicherheit, Sauberkeit und Service durch Ueberwachung von Thomas Brunst und Juergen Korell Don't "Go China"? verschoben auf n0name newsletter #40 30 KB, ca. 9 DIN A4-Seiten -------------------------------------------------------------------------- 1. Guenther Selichar's _screens, cold_ Die alltaegliche Geschichte der Anzeigen und zeigenden Schirme ist Fetisch. Ja, ja. nicht nur das Objekt kann Fetisch sein (wie in den 70ern die Digitaluhren, die ihren Erfolg sicher den damals neuartigen Displays und damit auch neuen, eckig-stabfoermigen Zeichenformen zu verdanken hatten), auch der bildnerische Diskurs. Aufgeblasen und ge-chiquet - Guenther Selichar's Abzuege wurden mit einer Highgloss-Laminierung gezeigt, was die Bilder spiegelnd-glatt macht - bekommen die Displays der PDAs, die Monitore der Computer und Oszillatoren, Glas- & Plastikscheiben, aus denen Licht emittiert, auratische Zustaende. Nur, sie zum Faktor zu erklaeren, der die Welt zur Scheibe mache, der die Wahrnehmung des Natuerlichen kappen wuerde, wie Ausstellungsmacher Urs Stahel zitiert, grenzt beinah an eine Verlustargumentation, ohne Braunsche Roehre und Fluessigkristalle waere alles natuerlicher, mithin besser zu sehen. Displays verstellten, platonisch, die Welt, öffentlich und privat loesten sich (nach Kamper) auf, anstatt sie sich - die Probleme des real existierenden Ueberwachungstaats 2001 mit den Bildgebenden Verfahren der Biometrie inbegriffen - neu konfigurieren wuerden. Ich sehe kalte Screens, aber kalt heiszt nicht gleich falsch oder unwahr. Ich sehe zuerst minimalisierende Inszenierungen von Screens, die allesamt, mit mikroskopischem Blick, frontal aufgenommen wurden, als waeren sie schon Tafelbilder bevor sie als fotografische Reproduktion an der Wand haengen. Die Groszbildschirm-Industrie wirbt mit genau diesem Tafelbild-Effekt. Der Rekurs auf die angebliche Funktion der Wirklichkeits-Verstellung der Bilder - Was ist ein Bild? fragt Robert C. Morgan - laesst auf eine Skepsis Bildern gegenueber schlieszen, aber auch auf eine heimliche Abwehr, eine vielleicht protestantistische Ablehnung der Bilder als Artefakte? Ihnen soll gefaelligst Wahrheitscharakter zukommen, was sie nicht leisten koennen, weshalb sie falsch seien? Die grundsaetzliche mediatisierende Leistung der Bilder, technischer Bild- und Zeichengenerierungssysteme und grafischen Interfaces wird auch im Text von Hubertus von Amlunxen eher verworfen. Es herrsche eine "Losigkeit", die mit einer medialen Auszehrung des Raums gleichzusetzen sei. Zerstoerte nicht Heinrich Heine's Eisenbahn schon diesen Raum und lies nichts als die Zeit zurueck? Die Losigkeit, von der Amelunxen spricht, ist eine Bildwelt in der alle Referenzen abhanden gekommen sind, die bekannte Position des Endes aller Signifikant-Signifikat-Beziehungen. Wenn die Screens nun in reiner Potenz, naemlich zeichenlos, gezeigt werden, kommt die Abwesenheit von Information zum Vorschein in solcher Analyse dieser Screens, die genaugenommen Screens von Screen sind. Diese Abwesenheit wird nur als A-Material der allgemeinen, geschichtslosen Besinnungslosigkeit interpretiert. Was nichts speichernd zeigt und deshalb wie eine leere Schultafel, aber Welten jenseits des Freudschen Wunderblocks, der Be-Sinnung, einer sinnlichen Selbstvergewisserung entgensteht, ist schlecht. Dass Guenther Selichar nur die Displays zeigt, ohne den Kontext der Geraete, wird in die Naehe "virtueller Bildlichkeit" gerueckt (Morgan), Bilder demnach, die moeglich unmoeglich sind, nichtmateriell und ephemer. In mancher ScFi-Geschichte geraet das Raumschiff in Orientierungsnot, weil das Display ausgefallen ist, aber ohne Display wuerde fatalerweise auch nichts gesehen. Selichar's Foto-Screens - ganz direkt seine Arbeiten "Who's Afraid of Blue, Red and Green?" 1996/98 und 2000, eine Barnet Newman-Adaption - funktionieren analog, nur material-technisch gesehen entgegengesetzt, wie die geloecherten Werbeflaechen auf Straszenbahnfensterscheiben, die den Blick zerloechern, zerpixeln und pluren. Indem Selichar Repraesentationsmittel der Fotobildtechnik exessiv zeigt und mit dem Motiv Bildgebender Verfahren abgleicht, deren Praesenz als Objekt ihre Funktion verhuellen soll, verweist er vordergruendig auf keinen Zeichenapparat oder Fundus von Zeichen, sondern nur auf die Apparate, die solche Zeichen herstellen. Allerdings mit dem Impetus der Distanz: Voellig konträr den Tribalisierungen der Handy-Logos-Szene, die piktogrammige Zeichen prosumieren, 'ethnologisiert' der Fotoblick die Displays und zeigt sie objektiviert, so, dass man vielleicht mal ein Messer in sie stuerzt, wie bei Newman geschehen. Soweit muß man nicht gehen, das Genialische wird ironisch auf der Webpage http://www.lot.at/EXTENS/selichar/ vetrieben, dort konnte eine Angebot von Guenther Selichar genutzt werden (Die interaktive Funktion (JavaApplet) wurde leider im Juli 2000 stillgelegt). Das Prinzip: individuelle Farbbalkenfolgen, Testreihen mit den Farben des Fernsehbildes, "eine freie, unlimitierte und sich staendig veraendernde Edition mitzugestalten", eine verteilte Bildermaschine. Guenther Selichar. _screens, cold_. Katalog anlaesslich der gleichnahmigen Ausstellung. Wien: Triton Verlag, 2001. DM 33,70 Ali Emas <ali.emas@n0name.de> -------------------------------------------------------------------------- 2. Interview mit Sascha Buettner (Wiesbaden) Matze Schmidt (MS): Sascha, mit deinen Aktivitaeten - Mitorganisation des _boderline_ Kongresses (http://www.octopusweb.org/borderline/), _serverhappening_ (http://www.b0rderline.f2s.com), Vermittlung von Kunstbetrieb und Theoriebetrieb - positionierst du dich sozusagen zwischen genuiner Produktion und Aktivismuskritik. Dabei kommen dir, wie aus deinen Aussagen herauszulesen ist, immer wieder 'ethisch-politische' Fragen bezogen auf die Weiterentwicklung digitaler Freiraeume entgegen einer verengenden kapitalistischen Oekonomisierung. Das Thema Politische Kunst ist ein eigenes, denkt man sich; auffaellig ist jedoch, dass es momentan soetwas wie einen Fokus-Wechsel dorthin innerhalb einer bestimmten Generation von Aktiven in Datennetzwerken gibt. Wie erklaerst du dir das? Sascha Buettner (SB): ich glaube nicht an eine akzeptable definition von dem was kunst, was sozial, politisch oder gar ethisch ist, zumal ich das ethische grundsaetzlich ablehne. die bezeichnung FOKUSWECHSEL finde ich angenehm. ich wuerde auch heute nicht mehr von einer art neubeginn einer 68ger revolution reden, obwohl ich im gegensatz zu den 80ger, doch eine deutliche konstruktive politische agitation einzelner kuenstler + kuenstlerinnen sehe. ueber diese these sprach ich bereits auf einer tagung vor 5 jahren in breslau. die zeit des kollektiven dekonstruktivismus scheint ueberwunden. auch scheint sich luhmans systembeschreibung nicht zu bewahrheiten. ueberhaupt scheint alles eher in einer wabernden, putzigen, bewegung zu sein, eine art flusz, in dem auch politische, auch soziale und vor allem kuenstlerische stroemungen sich permanent vermischen. das fuehrte letztendlich auch zur namensgebung unseres servers "INFLUXUS". die dinge, die keiner klaren benennung beduerfen, da sie sich nur so frei entwickeln koennen. die verhaltensweisen des kapital sind schwer einzuschaetzen, und vor allem nicht wirklich beeinfluszbar. es ist ein anderes, ein antikapitalistisches gesamtverstaendiss innerhalb eines breiten bevoelkerungsspektrums noetig. der kapitalmarkt hat sich das internet zu nutze gemacht. dies darf man nicht verkennen. die kommunkationgesellschaft ist ein produkt des derzeitigen superkapitalismus. er hat das internet aus seiner militaerischen rolle in eine kapitalistische ueberfuehrt (nebenbei bemerkt: gibt es da einen unterschied? muessen wir nicht wieder vom militaerisch- industriellen-komplex reden?), nur ist hier etwas seltsames passiert. in seiner ersten phase entwickelte das system "internet" eine "super- neoliberale" auspraegung, die oft mit einer "anarchistischen nicht- kontrolliertheit", einer "autonomen zone" verwechselt wurde. ich sehe aber, und dies nicht zuletzt vor den juengsten ereignissen, das der faktor der kontrolle (und hier meine ich nicht nur ueberwachung) immer mehr gewicht bekommt. informationen aus dem netzt sind im kontext immer kapitalistisch gepraegt, auch wenn sie das system kritisieren. was ein kuenstler hier leisten kann, waere eine form der nicht bestimmung. ein annaehern an eine form der absoluten aufloesung aller vorhandenen kapitalistisch verwertbaren strukturen. malewitsch folgerte bereits 1922, das der sozialismus nur eine zwischenstufe der nachkapitalistischen gesellschaft ist, aber durch viele unterschiedliche versuche immer wieder neu beginnen und scheitern wird. die endphase sah malewitsch in der ueberwindung des sozialismus, weil auch dieser nur materielle ziele hat. es geht deshalb primaer um die aufloesung aller materiellen denkstrukturen. diese form hat er bekanntlich als suprematismus bezeichnete. ich denke auch das www wird sich in der zukunft suprematistisch entwickeln. MS: Mit dem von dir veranstalteten _serverhappening_ im September 2001 hast du unter der Vorgabe des Potlatsch besonders die Fantasie vom flachen Sharing-Raum stark gemacht, die Resonanz war quotentechnisch betrachtet jedoch nicht sehr hoch. Enttaeuschend aber war vielleicht die Tatsache eines Misverstaendnisses seitens der Teilnehmer: es wurde zwar kraeftig hochgeladen, aber wenig Resampling betrieben. Genau dieses Moment des Aus- und Tausches wurde etwas verfehlt. Ist die Idee, Open Source-artige Strukturen in zunaechst zweckungebundene Umgebungen zu implantieren illusorisch, oder lagen die Gruende fuer dieses "Verfehlen" in szenischen Grenzen, die auf eine gar nicht so "offene" translokale Internetgemeinde schlieszen lassen? SB: es ist doch immer so: der anfang ist voller erwartung und dann..., aber hier ist der zeitpunkt wichtig. es passierte etwas, nun kann darueber berichtet und erzaehlt werden. in der fortsetzung werden es weitere personen wahrnehmen und aktiv werden. ich denke vielen fehlte auch der mut aktiv zu intervenieren. es ist ja auch immer das ding mit dem anspruch. es will jeder doch einem solchen gerecht werden. auch mit dem was er tut. im netz (und waehrend des serverhappenings schon gar nicht) ist niemensch unbeobachtet. es besteht die gefahr mit seinen bildern oder worten enttarnt zu werden. jedes foto, jede beschreibung, ist von unbekannten verifizierbar. ich plane eine fortsetzung in einer abgeaenderten form. ich koennte mir vorstellen, dass texte zerhackt einflieszen koennen, die zwar keinerlei inhalte mehr transportieren, aber sichtbare zeugnisse eines handeln sind. diese waeren dann nur noch von dem eigentlichen autor identifizierbar, verschluesselt und absolut kryptisch. bilder muessten aus dem netz gesaugt und auf den server ausgespuckt werden, meschanisch, ja stakkatoartig, einer maschinengewehrsalve gleich. das waere der rythmus des netzes. ich werde mich vor allem um einen groessere streuung bemuehen und versuchen mehr aktivisten + aktivistinnen zu erreichen. MS: Du bist in Wiesbaden im BBK-Vorstand, dem als eher konservativistisch geltenden Berufverband Bildender Kuenstler in Deutschland. Siehst du die Chance, die Arbeit innerhalb einer solchen Organisation im Sinn eines breiteren und sozio-aesthetischen Selbstverstaendnisses neu zu definieren? Schliezlich lagert dieser Verband traditionell wichtige kulturpolitische Verknuepfungen, die zur Kritik an kulturellen Formaten in Kopplung mit technischen Formaten genutzt werden koennten. SB: das gerade ist mein ziel. eine bestehende institution weiterzufuehren. zwar empfinden die zumeist ueber 70 jaehrigen mitglieder kaum noch anknuepfungspunkte, aber sie verspueren eine bewegung in eine neue richtung. lob aus diesem personenkreis empfinde ich als besonders bestaetigend. der bbk wird durch meine art der aufmischung in bewegung gesetzt. durch bewegung entsteht waerme, also ein positives element. Was daraus folgt, bleibt offen. der bbk koennte sich so erweitern, dass er die mitglieder ausserhalb der traditionellen formen kuenstlerischen schaffens sucht. die aufnahme von personen aus den geisteswissenschaften oder dem poltisch/sozialen sektor ist sicher in naher zukunft denkbar. auch der rahmen, der die definition der kuenstlerischen festsetzung, also dem, was kunst ist, bestimmt, wird sich veraendern. der borderline kongress waere nicht mit der vorhandenen bbk struktur durchfuehrbar gewesen. es gelang mir bereits 2000, hier wichtige, ortsansaessige, kulturelle grupierungen anzusprechen. haette ich nicht mit der umformung des bbk wiesbaden begonnen, so haetten sich unter umstaenden die verhandlungen mit dem kgb oder dem "atelier bratwurst" oder der "new art activism kooperative" als aeusserst schwierig gestaltet. ich denke, dass diese eher radikalen gruppen mit einem traditionell gefuehrten bbk nicht kooperiert haetten. kurz, ich gehe mit meinem engagement im bbk den umgekehrten weg vieler politischer kuenstler: ich nutze die konservative huelle, um mit diesem schutz, radikale veraenderungen voranzutreiben. morgen werde ich im bbk vereinsheim einen altar aufbauen, an dem einmal im monat der tod des autors (und der autorin) gefeiert wird. es haben auch schon einige kuenstler und kuenstlerinnen zugesagt, die dafuer noetigen reliquien zu schnitzen und unentgeltlich zur verfuegung zu stellen. auch opfergaben sind im gespraech. eine weiterfuehrende aktion wird sein: jedem studio-artist einen toten hasen ans gebaelk zu nageln. dem koennen diese kuenstler und kuenstlerinnen dann ihre bilder erklaeren. Sascha Buettner <saschabuettner@influxus.net> "sascha buettner" ist ein "multiple name". mehr informationen dazu unter www.identitaetsmaschine.org und www.influxus.net/praxis/idmtool/index.htm Matze Schmidt <matze.schmidt@n0name.de> -------------------------------------------------------------------------- multifiction://intershop im, mit oder gegen den strom? streaming media im www - zwischen kunst, kulturindustrie und kommerz Fachtagung in der Reihe interfiction im Rahmen des 18. Kasseler Dokumentarfilm und Videofests Kassel, 14.11.-18.11.2001 http://www.interfiction.net u.a. mit Sascha Buettner, Marlena Corcoran, Reinhold Grether, Monika Halkort, Mario Hergueta, Karin Hinterleitner, Ralf Homann & pingfm.org, indymedia, Verena Kuni, Anders Turge Lehr, Ulf Schleth, Matze Schmidt, Anne Schreiber, Florian Thalhofer -------------------------------------------------------------------------- 3. Nick. _Roman_ (Fortsetzungsroman) Teil 7 Der Mythos eines ungebaendigten krautigen Etwas umschlosz ihn. Dann entschloss er sich mit dem Laser Schneisen da rein zu schlagen. "Zzzsosch". Und "Zzzsosch". Teil 8 im n0name newsletter #40 -------------------------------------------------------------------------- 4. "Migration is globalisation from below." "Globalisation" is bullshit. It is euphemism. fibreculture is no globalisation It is Migration. where too? to afghanistan? where there is pain to usa? where there is rain Sample(r) your life -------------------------------------------------------------------------- 5. *Sicherheit, Sauberkeit und Service durch UEberwachung* von Thomas Brunst und Juergen Korell Bereits 1997 warb der Bundesgrenzschutz (BGS) im Mainzer Hauptbahnhof mit einem Plakat der Gewerkschaft der Polizei bei Bahnreisenden mit "groszen und kleinen Problemen", die der BGS noch bevor etwas passierte durch zuegiges Handeln loesen wollte.1 Offenbar war dieses Konzept nicht von Erfolg gekroent, denn die Deutsche Bahn AG entwickelte nun das 3-S-Konzept ein "Wohlfuehlprogramm". 3-S steht fuer Sicherheit, Sauberkeit und Service. Es verbirgt eine lueckenlose UEberwachung der Bahnhoefe.2 Fuer das 3-S-Konzept erhielt die Bahn AG den Big-Brother-Award Deutschland 2000 in der Kategorie Behoerden und Verwaltungen.3 Nachdem das Konzept in den Bahnhoefen von Frankfurt am Main und Hamburg getestet worden war, soll es auf die Bahnhoefe von Berlin-Zoo, Hannover, Dresden und Neustadt ausgeweitet werden.4 Bahnchef Mehdorn kuendigte darueber hinaus ein haerteres Vorgehen gegen Randalierer, aggressive Bettler, zudringliche Dealer und Drogensuechtige an. Doch nur die boesen Randstaendigen sollen nach dem Ermessen der Sicherheitskraefte verjagt und gegebenenfalls angezeigt werden. Der brave, demutsvolle und ruhige Bettler darf im Bahnhof bleiben.5 Schlieszlich soll der gut betuchte Bahnkunde nicht nur sein Geld in den Laeden der Bahnhoefe ausgeben duerfen, sondern auch den Armen das ueberfluessige Kleingeld in den Hut werfen koennen. Sonderstreifen der Bahn Schutz und Service GmbH (BSG), ausgestattet mit Cargohosen, rotem Barett und "Mehrzweck-Rettungsstock", wie der in ungeuebten Haenden zum Totschlaeger mutierte Tonfa genannt wird, patrouillieren 24 Stunden lang ueber das Bahnhofsgelaende. Die Bahn steigert ihre Ausgaben dafuer um zwei auf insgesamt 52 Millionen Mark.6 Durch Milliardeninvestitionen in die Sanierung sollen die Bahnhoefe ihr Schmuddelimage verlieren. Zur schnelleren Beseitigung von Graffiti und Spuren von Vandalismus steigert die Bahn die Ausgaben von 100 auf 170 Millionen Mark. Auszerdem sollen mehr UEberwachungskameras und Notrufsaeulen installiert sowie der Informations-Austausch mit Polizei, Bundesgrenzschutz und Kommunen, aber auch mit den Bahnhofsmissionen und Tiefgaragenbesitzern verstaerkt werden.7 Bundesinnenminister Schily als Dienstherr des BGS vereinbarte mit dem Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bahn AG, Hartmut Mehdorn, eine Ordnungspartnerschaft. Sichere, saubere und ordentliche Bahnhoefe erforderten eine enge Verzahnung bahnpolizeilicher Masznahmen und der Sicherheitsvorsorge der Deutschen Bahn, liesz Schily die OEffentlichkeit wissen. Der bahneigene Sicherheitsdienst BSG solle daher zusammen mit BGS-BeamtInnen auftreten. Die Bundespolizei BGS wird bei der Zusammenarbeit mit den privaten Diensten durch deren Wahrnehmung des Hausrechts unterstuetzt. Gleichzeitig soll der Informationsaustausch zwischen den Fuehrungsebenen des BGS und der Bahn intensiviert werden. Aus gemeinsamen Lagebildern sollen entsprechende Masznahmen abgeleitet werden, bei denen der BGS die Einsatzleitung zu uebernehmen hat. Man fuehrt gemeinsame UEbungen durch und unterstuetzt sich gegenseitig bei der Fortbildung der MitarbeiterInnen, um fuer Ad-hoc-Lagen und Schwerpunkteinsaetze gewappnet zu sein.8 Die gemeinsamen Einsaetze erfolgen nach unterschiedlichen Modellen: Sie reichen von der oertlichen und zeitlichen Abstimmung der jeweiligen uniformierten Streifen von BGS und BSG in einem Einsatzraum bis zu gemischten Streifengaengen. Auf diese Art verbinden sich das kostentraechtige Know-how der Polizei mit der Wirtschaftlichkeit des privaten Sicherheitsunternehmens. Die Vereinbarungen werden von einer Koordinierungsgruppe ueberprueft. Bei der Security der Bahn AG ist ein Verbindungsbeamter des BGS eingesetzt.9 Die Grenzschutzpraesidien wussten aufgrund ihrer ersten Erfahrungen dem Innenministerium von einem effektiven Personaleinsatz bei einem gleichzeitig gesteigerten Sicherheitsniveau aufgrund der Vereinbarungen zwischen Bundesinnenministerium und der Deutschen Bahn AG zu berichten. Eine Anfrage bei dem Bundesbeauftragten fuer den Datenschutz sollte klaeren, ob durch die gemeinsamen Streifen von BGS und BSG personenbezogene Daten dem privaten Sicherheitsmann unbefugt zur Kenntnis gelangen koennen. Das Bundesinnenministerium vertritt dazu die Auffassung, dass bei der Durchfuehrung gemeinsamer Streifengaenge eine gemeinsame Datenerhebung nicht stattfindet. "Bei lageabhaengig auftretenden gemischten Streifen werde eine mit polizeilichem Handeln einhergehende dienstliche Taetigkeit ausschlieszlich von Polizeibeamten des Bundesgrenzschutzes durchgefuehrt, wobei sichergestellt sei, dass personenbezogene Daten im Bereich des BGS verblieben und die Persoenlichkeitsrechte des Einzelnen gewahrt wurden. Diese geschehe praktisch dadurch, dass aktuelle Personenfahndungen vorher angekuendigt werden und der Polizeivollzugsbeamte so die Moeglichkeit hat, sich fuer den Austausch personenbezogener Daten auszer Hoer- bzw. Sichtweite des privaten Sicherheitsunternehmens zu begeben. Soweit dies aufgrund erheblichen Publikumsverkehrs nicht moeglich ist, sollen Hoer-/Sprechgarnituren eingesetzt werden. Im uebrigen sehe die Ordnungspartnerschaft vor, mindestens zwei derartige Streifen oertlich und zeitlich, so einzusetzen, dass jederzeit schnellstmoegliche gegenseitige Unterstuetzung gewaehrleistet ist. Damit sei insbesondere auch sichergestellt, dass bestimmte Einsatzmasznahmen von vornherein ausschlieszlich von BGS-Beamten durchgefuehrt werden koennen."10 Die Praxis lehrt allerdings, dass bei gemeinsamen Streifen, jeder Streifenteilnehmer aktiv wird. Jede andere Annahme ist fern der Praxis. Es wird ein persoenliches Verhaeltnis aufgebaut, an dessen Ende es den Beteiligten egal ist, aus welchen Bereichen sie stammen. Sie tauschen sich aus und tauschen dementsprechend auch personenbezogene Daten aus, weil sie letztendlich aufeinander angewiesen sind. Theoretisch ist die Einhaltung des Datenschutzes zwar anzuweisen und darum hat der Bundesdatenschutzbeauftragte das Bundesinnenministerium auch gebeten, doch praktisch ist der Datenschutz nicht zu gewaehrleisten. Das muessten die Verantwortlichen eigentlich wissen. Sie koennen sich aber wieder einmal aufgrund entsprechender Anordnungslagen aus der Verantwortung ziehen. So wusste die taz Hamburg von einer Kontrolle einer gemischten Streife von BGS und BSG im Hamburger Hauptbahnhof zu berichten: "UEber Funk werden die Daten abgeglichen. "Ist das auch die Adresse, wo sie gemeldet sind?", fragt der BGSler, und der BSG-Mann hakt notierend nach: "Dort wohnen sie wirklich?"11 Auch die Gewerkschaft der Polizei (GdP) befuerchtet eine Vermischung hoheitsrechtlicher und privatrechtlicher Aufgaben. Obwohl die GdP den Ordnungspartnerschaften aufgeschlossen gegenuebersteht, wuerde sie lieber getrennte Doppelstreifen von BGS und BSG sehen. Der Bahnsicherheitschef, Jens Petersen favorisiert weiterhin das Modell der gemischten Streifen. Schlieszlich sei es seinem Verhandlungsgeschick zu verdanken, dass das Modell vertraglich verankert worden sei. Er sehe nun keine Moeglichkeit mehr, den Vertrag mit dem Innenminister zu aendern.12 Die Befuerchtung, dass Private Sicherheitsbedienstete Polizeiaufgaben uebernehmen, scheint sich durch einen Vorfall in der Hamburger S-Bahn- Wache zu bestaetigen. Auf dem Hamburger Bahnsteig Jungfernstieg wurde bei einem 15-jaehriger Jugendlichen aus Sierra Leone eine Fahrkartenkontrolle durch Angestellte der Fa. Securitas durchgefuehrt. Obwohl der Jugendliche die entsprechenden Karten vorzeigen konnte, wurde nach seinem Ausweis verlangt, den er mit dem Hinweis verweigerte, dass es sich nicht um Polizei handele. Daraufhin sei der Jugendliche geschlagen, zur Wache gebracht und weiter geschlagen worden. Nach Darstellung der Securitas- Maenner habe der Junge die Maenner angegriffen. Einer erstattete Strafanzeige wegen Koerperverletzung, die andern fungieren als Zeugen. Nach Angaben des BGS habe sich der Junge "koerperlich betaetigt" als ihn die Sicherheitsmaenner am Schlucken "rauschgiftaehnlicher Substanz" hindern wollten.13 Hier zeigt sich sehr wohl die Gefahr, dass Private Sicherheitsangestellte sehr gerne Polizeiaufgaben uebernehmen, die sich aus deren Aufgabenstellung von ganz alleine ergibt. Derzeit werden 42 Bahnhoefe in ganz Deutschland videoueberwacht. Allein in dem sanierten und modernisierten Leipziger Hauptbahnhof sind 140 Videokameras installiert und sorgen in den 130 Geschaeften fuer ein sicheres Einkaufserlebnis. UEberwacht werden die Kameras in trauter Gemeinsamkeit von der BSG und dem BGS. Innerhalb von drei Minuten muss eine Sicherheitsstreife eingreifen koennen, was eine entsprechende Konzentration im Bereich der Videokameras voraussetzt. Gegenueber den 140 Kameras im Leipziger Vorzeige-Bahnhof ueberwachen drei Kameras der Leipziger Polizei die kriminalitaetsgeografischen Brennpunkte vor dem Bahnhof und in der Innenstadt. Angeblich habe die Videoueberwachung zu einem drastischen Rueckgang bei Einbruchs- und Taschendiebstaehlen gefuehrt, wobei der Drogenhandel weiterhin floriere.14 Mit den neuesten Modellen der verdeckten Videokameras sollen die datenschutzrechtlichen Bedenken zerstreut werden. Die Kameras koennen so programmiert werden, dass sie zur Wahrung der Privatsphaere Sperrbalken ueber das Videobild legen. So kann der bahnreisende Geschaeftsmann beim Betreten eines Sexshops unerkannt bleiben. Die Industrie weisz zudem wie trotz eines vermehrten Einsatzes von Videokameras Personal eingespart werden kann. Computer koennen die UEberwachung der Kameras uebernehmen, indem sie bei bestimmten Feststellungen Alarm schlagen.15 Der hessische Revolutionaer und Dichter Georg Buechner, prophezeite: »Wer das Schwert erhebt gegen das Volk, der wird durch das Schwert des Volkes umkommen.«16 Mit anderen Worten ausgedrueckt: Auf Dauer laesst sich die Gesellschaft nicht staendig und ueberall ueberwachen. Ebenso wenig lassen sich die gesellschaftlichen Auszenseiter und Wohlstandsverlierer staendig vertreiben. Auch dann nicht, wenn es demokratisch legitimiert erscheint, weil damit Ausgrenzung und Unterdrueckung verbunden ist. _____ 1 Das Modell New York: Kriminalpraevention durch Zero Tolerance, Hrsg.: Dreher, Gunther/Feltes Thomas, Holzkirchen/Obb. 1997, S. 143 2 Die Zeit 48/2000 3 Die Zeit 48/2000 [http://www.bigbrotherawards.de/2000/.gov/index. html , n0name Redaktion] 4 Heilbronner Stimme v. 6.8.2001 5 Allgemeine Zeitung v. 2.8.2001 6 Wiesbadener Kurier v. 2.8.2001 7 ebd. 8 Cilip 68, S. 70 9 ebd. 10 Schreiben des Bundesbeauftragten für Datenschutz v. 17.7.2001 11 taz Hamburg v. 23.7.2001 12 Deutsche Polizei 7/2001 13 taz Hamburg v. 19.6.01 14 ebd. 15 ebd. 16 Jungle World 33/2001 [n0name empfiehlt http://www.safercity.de , Infos über die deutsche Sicherheits- und Ordnungspolitik] -------------------------------------------------------------------------- Sie erhalten den n0name newsletter, weil sie da sind! You get the n0name newsletter, because you are there! n0name, c/o Matze Schmidt, redaktion@n0name.de Redaktion: Ali Emas <ali.emas@n0name.de>, Anonymus <anonymus@n0name.de>, Matze Schmidt <matze.schmidt@n0name.de>, Nick <nick@n0name.de>, X <x@n0name.de>, Susi Meier <susi.meier@n0name.de>, comcat <c@n0name.de> n0name is a Open Profit/Non-Profit Content-Provider & Sampling System. http://www.n0name.de [n0name with a 0 (in words "zero")!] Next/Naechster n0name newsletter: December/Dezember 2001 Vorschau/Preview: FOND (Fond zur Organisation Nichtkommerzieller Dinge) Don't "Go China"? 3000 [schon fuer #39 angekuendigt] Abonnieren/Subscribe: send e-mail with "Subscribe" as subject or in the body to: subscribe@n0name.de or click!: mailto:subscribe@n0name.de?subject=subscribe Abbestellen/Unsubscribe n0name newsletter: send e-mail with "Unsubscribe" as subject or in the body to: unsubscribe@n0name.de or click!: mailto:unsubscribe@n0name.de?subject=unsubscribe *Bitte weiterleiten!/Please forward!* Copyright (c) © 2001 n0name und die Autoren Supported by Datawerk http://www.datawerk.de ---- End of n0name newsletter #39 Kreuzberg Fr., 29.10.2001 22:59 CET ---- Karl Marx Das Kapital Kritik der politischen Ökonomie Karl Marx Das Kapital Kritik der politischen Ökonomie Erster Band: Der Produktionsprozeß des Kapitals Gewidmet meinem unvergeßlichen Freunde, dem kühnen, treuen, edlen Vorkämpfer des Proletariats WILHELM WOLFF Geb. zu Tarnau, 21. Juni 1809. Gest im Exil zu Manchester 9. Mai 1864 Vor- und Nachworte Vorwort zur ersten Auflage Das Werk, dessen ersten Band ich dem Publikum übergebe, bildet die Fortsetzung meiner 1859 veröf- fentlichten Schrift; »Zur Kritik der Politischen Oeko- nomie«. Die lange Pause zwischen Anfang und Fort- setzung ist einer langjährigen Krankheit geschuldet, die meine Arbeit wieder und wieder unterbrach. Der Inhalt jener früheren Schrift ist resümiert im ersten Kapitel dieses Bandes. Es geschah dies nicht nur des Zusammenhangs und der Vollständigkeit wegen. Die Darstellung ist verbessert. Soweit es der Sachverhalt irgendwie erlaubte, sind viele früher nur angedeuteten Punkte hier weiter entwickelt, während umgekehrt dort ausführlich Entwickeltes hier nur an- gedeutet wird. Die Abschnitte über die Geschichte der Wert- und Geldtheorie fallen jetzt natürlich ganz weg. Jedoch findet der Leser der früheren Schritt in den Noten zum ersten Kapitel neue Quellen zur Geschich- te jener Theorie eröffnet. Aller Anfang ist schwer, gilt in jeder Wissenschaft. Das Verständnis des ersten Kapitels, namentlich des Abschnitts, der die Analyse der Ware enthält, wird daher die meiste Schwierigkeit machen. Was nun ------------------------------------------------------- rohrpost - deutschsprachige Liste fuer Medien- und Netzkultur Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost Info: http://www.mikro.org/rohrpost Ent/Subskribieren: http://post.openoffice.de