Tilman Baumgaertel on Thu, 11 Apr 2002 13:33:09 +0200 (CEST)


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[rohrpost] Nazis = Dreiecke


Zwei - hoffentlich - interessante Artikel aus der "Zeit" von heute; einer
von Kathrin Luz ueber "Kontrollfelder": 

http://www.zeit.de/2002/16/Kultur/200216_kontrollfeld.html

einer ueber Games von Kuenstlern von mir: 

http://www.zeit.de/2002/16/Kultur/200216_computerspielkun.html


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DIE ZEIT

Feuilleton 16/2002

Alle Nazis werden Dreiecke


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Computerspiele verwandeln sich in hintersinnige Kunstwerke

von Tilman Baumgärtel


Ein pizzaförmiges Wesen, das sich durch ein Labyrinth voller Punkte frisst.
Ein schnauzbärtiger Klempner, der vor herunterfallenden Röhren flieht. Eine
Archäologin mit Gardemaßen, die sich durch den Regenwald hangelt. Pacman.
Super Mario. Lara Croft. Aus diesen Figuren sind mit der seltsamen
Traumlogik der Popkultur Ikonen geworden, die vielen Kindern und
Jugendlichen vertrauter sind als Charlie Chaplin oder Madonna.

Irgendetwas fällt auf einen herab, immer wieder; unter einem gähnen tiefe
Abgründe, über die man auf schmalem Grat balancieren muss; man steckt in
einem Keller voller Monster fest. Das ist der Stoff, aus dem Computerspiele
sind: tiefe Bilder, schlimme Träume, die auf dem Computermonitor mit einer
merkwürdigen Unvermitteltheit ihr Recht behaupten und in ihrer Absurdität
manchmal an surrealistische Gemälde erinnern. Computerspiele sind keine
Kunst, aber sie könnten Kunst sein, wenn sie nicht von Ingenieuren und
Programmierern für Schulkinder hergestellt würden. Wenn Leute Spiele
entwerfen würden, denen es um etwas anderes ginge als nur um die digitale
Version von Fangenspielen. 

Ein merkwürdiges Schwarzweiß-Universum umfängt mich, die Wände, die Böden,
die Decken sehen aus wie von einem Dreijährigen gekritzelt. Schiebetüren
öffnen und schließen sich, es liegen Gewehre und Kerzenständer herum. Und
dann sind da diese seltsamen Krakelmännchen, die um mich herumtanzen und
mich beleidigen. Wenn ich nach ihnen schlage, höre ich ein dumpfes "Zack";
dann kippen sie um wie ein Stück Pappe. Ich spiele Pencil Whipped von dem
amerikanischen Künstler Lonnie Flickinger. Pencil Whipped ist eine bizarre
Variation über Ballerspiele à la Doom oder Counterstrike, die seit einigen
Jahren zu den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen männlicher Teenager
gehören. Doch während diese Spiele alles daran setzen, auf dem Monitor so
fotorealistisch wie möglich zu wirken, geht es Flickinger um das genaue
Gegenteil. Seine Spiellandschaft sieht aus wie ein dreidimensionales
Kinderkritzelbild. 

Auch Pencil Whipped ist im Grunde nichts anderes als eine digitale Version
von Fangen - aber im Gegensatz zu anderen Computerspielen versucht
Flickinger nicht, die Wirklichkeit so getreu wie möglich zu imitieren, eher
zerpflückt er sie. Und so ist es ihm in diesem März gelungen, in zwei
Welten aufzutreten, die eigentlich streng getrennt sind: im Massachusetts
Museum of Contemporary Art und beim jährlichen Independent Games Festival,
einem Wettbewerb für neue Computerspiele. Bei beiden Veranstaltungen ist er
gleichzeitig Außenseiter und einer der interessantesten Beiträger. Während
sein Spiel im Museum zwischen Arbeiten von Beuys und Wilson installiert
wurde, musste er beim Independent Games Festival mit Baller- und
Strategiespielen konkurrieren.

Flickinger gehört zu einer Gruppe von Künstlern, die Computerspiele als
Medium entdeckt hat und sich damit auf einen Bereich der Kulturindustrie
einlässt, der zurzeit wohl dynamischer ist als jeder andere. Mit Spielen
wird weltweit inzwischen mehr verdient als mit Filmen oder Popmusik. Um
Computer-Games haben sich riesige Subkulturen entwickelt, die über das
Internet oder bei LAN-Partys - bei denen sich über Netzwerke Hunderte von
Menschen in dasselbe Spiel einloggen - gegeneinander antreten. 

Viele Spiele bieten inzwischen die Möglichkeit, mit so genannten Editoren
eine eigene Spielwelt und eigene Figuren zu erstellen. So kann man Doom, in
dem normalerweise furchterregende Krieger auf Monster auf einem Marsmond
schießen, per Modifikation (kurz: Mod) so verändern, dass sich Mickey Mouse
und Ronald McDonald durch ein Kaufhaus jagen. Sogar Architekten verwenden
inzwischen die Game-Engines von Computerspielen wie Unreal oder Half-Life,
um erste Skizzen ihrer Ideen in dreidimensionaler, durchgehbarer Form zu
realisieren. Daher ist es eigentlich erstaunlich, dass erst jetzt Künstler
die Computerspiele für sich entdeckt haben. Denn auf eine seltsame Weise
sind Computerspiele der wahr gewordene Traum vom Gesamtkunstwerk: Sie
verbinden bewegte Bilder und Musik, Architektur und Erzählung,
Schauspielerei und Choreografie zu einer vollkommen eigenen Welt und einer
neuen Kunstform, die so nur mit dem Computer möglich ist.

Anders als Richard Wagner, der als Erster vom Gesamtkunstwerk träumte,
braucht man kein Festspielhaus in Bayreuth, um diese Träume wahr werden zu
lassen. Die Möglichkeiten, die "Mods" bieten, haben Künstler dazu angeregt,
eigene Spielversionen zu erstellen, die deren Prämissen zum einen Teil
weiterführen und zu Ende denken, ihnen zum anderen Teil aber auch explizit
widersprechen. Die Künstlergruppe Jodi aus Holland hat sich zum Beispiel
das berühmt-berüchtigte Spiel Wolfenstein vorgenommen, das in Deutschland
auf der Liste der jugendgefährdenden Schriften steht. Gegen die Version von
Jodi kann freilich kein Jugendschützer etwas einwenden: Die Nazis, die man
im Original jagen muss, sind zu deutsches Kauderwelsch brüllenden Dreiecken
geworden. Alles, was eigentlich gegenständlich ist, wird durch schwarzweiße
geometrische Formen ersetzt, und so sieht das Spiel, das im Original
hitzige Debatten über das, was auf Computermonitoren erlaubt sein darf,
auslöste, nun aus wie ein animiertes Op-Art-Bild, in dem man selbst
herumstromern kann.

Auch mit ihrer Version von Doom sind die Künstler dieser Methode treu
geblieben: Ihr Untitled Game sieht aus wie ein dreidimensionales abstraktes
Bild. Statt Monster durch finstere Keller zu jagen, ist man plötzlich von
farbigen Pixelklumpen umgeben. Wie in einem begehbaren Film von Oskar
Fischinger kann man sich hier durch eine synthetische Welt aus Farben und
Formen bewegen, gegen die das Reich des Zauberers von Oz gewöhnlich wirkt.
Ein ganz anderes Wunderland hat der Brite Tom Banks entwickelt, der unter
dem Namen Nullpointer operiert. Seine Spiele sind lebendige Ölgemälde: Die
Figuren verwandeln sich in tropfende Formen, während sie über den
Bildschirm hasten, die Spiellandschaften zerlegen sich selbst in bizarre
Formen, auf die ein Dali neidisch wäre, hätte er dieses Tohuwabohu von
Farben und Formen noch erlebt. So total sind die visuellen Illusionen, die
ein Videospiel zu erzeugen versucht, wohl noch nie auseinander genommen
worden. Tom Banks Spiele gleichen einem Friedhof der künstlichen Intelligenz.

Auch der spanische Künstler John Leandre sägt mit seinem Projekt Retro You
an unseren Wahrnehmungsgewohnheiten. Er hat ein Rennspiel umprogrammiert,
und alle Regeln, die bei der Ralley Monte Carlo mit Macht ihr Recht
fordern, außer Kraft gesetzt: Die Gesetze der Schwerkraft gelten nicht für
sein Autorennen durch einen irrealen, abstrakten Raum. Wer von der Bahn
abkommt, wird zu einer Farbwolke. 

In seinem Klassiker Homo Ludens hat der Anthropologe Johann Huizinga
hervorgehoben, dass Spiele immer auch ein irrationales Element haben. Die
Computerspiele von Künstlern stellen genau dieses Irrationale und
Unvernünftige der Games in den Mittelpunkt. Während die "richtigen"
Computerspiele immer wirklichkeitsgetreuer und rationaler werden, zeigen
die Künstler, dass der Computer jede noch so durchgeknallte und irrationale
Fantasiewelt generieren kann. Damit sind sie dem ursprünglichen Geist des
Spielens näher als viele hyperrealistische Computerspiele für die Playstation.

 
 

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