Florian Cramer on Tue, 4 Jun 2002 18:59:15 +0200 (CEST) |
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[rohrpost] Vom Freien Gebrauch der Nullen und Einsen - "Open Content" und Freie Software [2/2] |
[Forts.] Urheberrecht in seiner jahrhundertelangen Anpassung an die spezifischen Bedürfnisse und Gegebenheiten des Buchhandels für digitale Information nicht mehr taugt, zweitens, daß die Frage, was ihm folgen soll, Gegenstand eines Kulturkampfs geworden ist. Daß es ein Kulturkampf ist, dessen Ausgang über die künftige Ordnung des Wissens entscheidet, ist allen technisch Literaten bewußt; wenn man in Feuilletons kaum davon liest und wenn in Geistes- und Sozialwissenschaften sowie in den Künsten wenig davon wahrzunehmen ist, so zeigt sich daran nur das Ausmaß des digitalen Analphabetismus. Der Fall Napster ist sprichwörtlich geworden, weil sich in ihm der Kulturkampf erstmals abzeichnete. Vor seiner Abschaltung im Jahr 2001 erlaubte es Napster jedem seinem Nutzer mit jedem anderen Napster-Nutzer in der Welt Musikdateien zu tauschen, und zwar außerhalb traditioneller Server-basierter Internetdienste wie World Wide Web und E-Mail. Der eigentliche Datenaustausch spielte sich nur zwischen den PCs der Nutzer ab. Der zentrale Napster-Server enthielt keine Musik, sondern nur eine Datenbank, die die Musikdateien aller momentan angeschlossener Nutzer katalogisierte. Neuere peer-to-peer Netze wie Gnutella kommen, indem sie auch den Katalog auf die angeschlossenen Nutzer verteilen, ganz ohne Zentralserver aus und erlauben über den Austausch von Musik hinaus das Einstellen beliebiger Dateitypen. Je nach Sichtweise kann man diese Netze als Einladungen zur systematischen Bruch des Urheberrechts ansehen sowie als Schund-Multiplikatoren von Pornographie und Chart-Pop; oder aber man hält sie für eine historische Revolutionierung von Bibliothek und Archiv zu einem Zusammenschluß von Privatbibliotheken mit einem in Echtzeit katalogisierten dynamischen Bestand. Auf seinem Höhepunkt im Januar 2001 war Napster die umfangreichste Musikbibliothek aller Zeiten und bot zumindest die beste Sammlung populärer Musik des 20. Jahrhunderts. Daher könnte man nicht nur die Erfindung, sondern auch den Verlust dieses Archivs für epochal halten. Der Fall Napster, der mit der gerichtlich verfügten Abschaltung des Zentralservers im Mai 2001 zu den Akten gelegt wurde, legte die Grundlage der Bestrebungen der Musik-, Film- und Verlagskonzerne, per ,,Digital Rights Management`` Urheberrechtskontrollen direkt in digitale Medienformate einzucodieren. Der Bertelsmann-Medienkonzern erwarb die Aktienmehrheit von Napster Inc. und plante, den Dienst auf der Basis von Abonnementgebühren und mit einem neuen, ,,Digital Rights Management``-gestützten Musikdateiformat wiederzubeleben, beließ es bis heute allerdings bei dieser Ankündigung. Zu Recht sahen Medienkonzerne und Interessenverbände wie die ,,Recording Assocation of American (RIAA)`` und die ,,Motion Picture Association of America (MPAA)`` in Napster nur den Anfang einer Entwicklung, an deren Ende zum Beispiel auch der peer-to-peer-Tausch von digitalisierten Filmen und Büchern stehen würde. Daß Musik dieser Distributionsweise zum Durchbruch verholf, lag auch daran, daß sie (im Gegensatz zu Literatur und Film) seit Erfindung der Audio-CD im Jahr 1982 systematisch als digitales Datenmaterial verbreitet wurde, dessen Nullen und Einsen vergleichsweise simpel ausgelesen, umcodiert und in digitale Netze gespeist werden konnten. Daß dies Künstler und Verleger, die von ihren Urheberrechten faktisch leben, alarmierte, ist so verständlich wie legitim. Was also ist problematisch an ,,Digital Rights Management`` bzw. digital eincodierter Urheberrechtskontrolle? Daß sie die öffentliche Nutzung von Medien in Bibliotheken sowie in Forschung und Lehre verhindert, leuchtet sofort ein, daß sie Archivierung und langfristige Lesbarkeit von Information verhindert, dürfte vielen erst spät dämmern. Interessant sind aber auch die Konsequenzen für das Rechtsverständnis. Mit dem gesetzlichen Verbot von Entsperr-Techniken wie im amerikanischen ,,Millennium Copyright Act`` und in der geplanten EU-Urheberrechtsnovelle erhalten Software- und Medien-Hersteller die Definitions-Narrenfreiheit darüber, was überhaupt ein ,,Kopierschutz`` ist und was somit strafrechtlich relevant gegen ihn verstößt. Und wenn schließlich die Einhaltung urheberrechtlicher Spielregeln durch ,,Digital Rights Management`` erfolgt, wird die Exekutive eines Gesetzes nicht mehr Beamten, sondern Algorithmen überantwortet, und privatwirtschaftlichen noch dazu. Außerdem beschränkt sich diese Kontrolle nicht auf das Urheberrecht, sondern greift massiv in das individuelle Nutzungsrecht ein. Der Definition nach regelt das Urheberrecht nur die anonyme Transaktion zwischen Urheber bzw. Rechteinhaber und Käufer, nicht aber Transaktionen von privat zu privat und die private Nutzung. Analog dazu gesteht das US-amerikanische Recht dem Käufer einen ,,fair use`` dessen zu, was er legal erworben hat. Bücher zum Beispiel dürfen nicht nur zitiert, sondern für den privaten Gebrauch auch kopiert, abgeschrieben, antiquarisch weiterverkauft und natürlich verliehen werden. Wenn das ,,Digital Rights Management`` zum vermeintlichen Schutz des Urheberrechts alle Transaktionen und Nutzung entanonymisiert und den ,,fair use`` einschränkt, wenn neue urheberrechtliche Verbote von Entsperr-Techniken das bisherige Nutzerrecht auf Privatkopien faktisch abschaffen,{2} so drückt sich darin etwas aus, das man auch als Gegner solcher Eingriffe nicht bestreiten kann: Daß nämlich im Zeitalter preiswerter PC-Hardware, preiswerter Hochgeschwindigkeitszugänge zum Internet und peer-to-peer-Netze zwischen privater und öffentlicher Transaktion nicht länger unterschieden werden kann. Denn jedes Abspielen von digitaler Information - jede Anzeige einer Textseite, jedes Abspielen von Musikstücken und Filmen, jedes Laden einer Software -, ist ein Vorgang, bei dem Nullen und Einsen von einem Ort zum anderen kopiert werden, zum Beispiel von der CD-Silberschicht zum Ton-Wandlerchip eines CD-Players oder von der Festplatte in den Arbeitsspeicher eines Personal Computers. Die Unterscheidung von ,,Abspielen`` einerseits und ,,Kopieren`` wird um so willkürlicher, je häufiger die Abspielleitung statt des kurzen Kabels vom CD-Laser zum Audiochip eine Internet-Verbindung ist. Bis zu welcher Kabellänge werden Bits eine ,,genutzt``, ab welcher werden sie ,,distribuiert ``? So lösen sich mit Discounter-PCs, DSL-Flatrates und Gnutella zwar Bertolt Brechts und Hans Magnus Enzensbergers Medienutopien ein, denen zufolge die Empfangsapparat doch gefälligst auch Sendeapparate werden mögen; doch klebt daran die dialektische Fußangel, daß die vormaligen Empfänger und heutigen Sender auch allen rechtlichen Risiken des Sender- und Produzententums ausgesetzt sind. Doch weiten ,,Digital Rights Management``-Codierungen nicht nur das Regiment der Urheberrechte pauschal auf die Nutzungsrechte aus, sondern sie sind auch der Hebel, um das traditionelle Urheberrecht zu umgehen und nach dem Vorbild der Softwareindustrie durch einen individuellen Kundenvertrag mit einer Herstellerlizenz zu ersetzen. - In diesem Detail überschneiden sich interessanterweise das Copyleft der freie Software und das proprietäre Distributionsmodell digitaler Information. - Der Käufer erwirbt ein Werk nicht mehr als sein Eigentum, sondern nur mit einer Nutzungslizenz, die zum Beispiel die Lektüre eines Werks nur durch eine Person und auf einem Gerät erlaubt oder sogar, wie bereits heute in einigen E-Book-Lizenzen, verbietet, es laut vorzulesen. Durch ,,Digital Rights Management`` kann nicht nur die örtliche Nutzung eingeschränkt werden ähnlich wie beim DVD-Regionalcode, sondern auch die Nutzungsdauer. Vorreiter auf diesem Gebiet ist Microsoft. Für den de-facto-Monopolisten wird es immer mehr zum Problem, daß Windows-Nutzer die alten Versionen ihrer Software weiterverwenden und bei sinkenden PC-Preisen die hohen Lizenzgebühren für vorinstallierte Windows-Betriebsssysteme zunehmend ins Gewicht fallen. Microsoft möchte deshalb seine Software künftig zukünftig nicht mehr verkaufen, sondern gegen monatliche oder jährliche Nutzungsgebühren vermieten (und über die ,,.NET``-Architektur das Betriebssystem fest an eigene Netzwerk-Dienste koppeln). Auch in digitalen Musik-, Film- und Literaturkonserven soll das ,,Digital Rights Management`` vor allem die Umstellung von Verkauf auf Vermietung erleichtern und zeitliche Nutzungsbegrenzungen und Zahlungsmoral überwachen. Freier Code als Gegenmodell ,,Open Content`` und Freie Software sind konservative Projekte. Sie sind der Versuch, das Konzept freien Wissens, akademischer Zitierfreiheit und öffentlicher Bibliotheken für digitale Netzwerke zu bewahren. Dort, wo das Copyleft die traditionelle Zitierfreiheit übersteigt, nämlich in der Erlaubnis, Code willkürlich zu verändern und ohne Urheber-Kompensation kommerziell zu vertreiben, liegen auch potentielle Fallstricke, die spezialisiertere ,,Open Content``-Lizenzen zu lösen versuchen. Weil Software-Algorithmen Mathematik sind und Digitalcodes Binärzahlen, erträumt sich Freie Software für Computercode dieselbe Freiheit, mit denen mathematische Formeln und Beweise seit der Antike in der Wissenschaft zirkulieren. Während die Medienindustrie ihre Lizenz- und Copyrightmodelle an digitalisierten, ursprünglich nichtschriftlichen Medien wie Tonaufnahmen und Film entwickelt und daher in der Tradition des sinnlich konkreten Kunstwerks denkt, liegt Freier Software ein Verständnis digitaler Codes als abstrakter Schrift und freier Meinungsäußerung zugrunde. Die Buchkultur ist insofern eine Avantgarde digitaler Netze und Medien, als Literatur (neben schriftlich notierter, insofern literarisierte Musik) die älteste informationsverlustfrei massenreproduzierbare Kunst ist; eine konzeptualistische, d.h. weitgehend unabhängig von ihrem materiellen Träger verfaßte Kunst zumal, der jene Fixierung auf ausstellbare Objekte und Originale fremd ist, die zum Beispiel den Betrieb der bildenden Kunst an digitaler Netzkunst verzweifeln läßt. Als Prototypen digitaler Schriftkultur zeigen Buchdruck und Bibliotheken, wie ein kommerzielles, privatwirtschaftliches Vertriebssystem mit einem öffentlich-nichtkommerziellen koexistieren kann. Was wie ein Allgemeinplatz klingt, war kurz nach Gutenbergs Erfindung noch keiner, denn Drucker und Verleger wollten Leihbibliotheken zunächst verboten wissen. Das Urheberrecht glich ihre Interessen mit denen der Bibliothekare, Autoren und Leser aus; es war nie ein Dogma, sondern Verhandlungsgegenstand und pragmatisches Instrument. So ist die Unterscheidung von rechtlich geschützter Kunst und freiem Wissen konventionell und wird erschwert, wenn Wissenschaftler wie Künstler im selben Notationssystem von Nullen und Einsen arbeiten. Auffällig ist diese Unschärfe in der zunehmenden Überlappung von (künstlerischem) Urheber- und (technisch-wissenschaftlichem) Patentrecht. So ist es das Geschäftsmodell der privatwirtschaftlichen Genforschung von Firmen wie Monsanto und Celera, entschlüsselte Genome zu patentieren und Gewinn durch die Lizenzierung geistigen Eigentums zu erzielen. Patentiert sind unter anderem Krankheiten, Körperteile und Pflanzensorten, als Textcode ihres Genoms. Auch Software-Konzepte und -Algorithmen werden in den USA großflächig, in der EU teilweise patentiert. Der Internet-Buchhändler amazon.com zum Beispiel besitzt ein Patent auf Bestellungen mit nur einem Mausklick. Andere Online-Versandhandlungen müssen entweder mindestens zwei Mausklicks zum Abschicken einer Bestellung erforderlich machen oder Lizenzgebühren an Amazon entrichten. Die British Telecom behauptet, aus den 1970er Jahren ein Patent auf Hypertext-Links zu besitzen und bringt es gegen die Erfinder des World Wide Web in Stellung. Da der Computer nach Turing es erlaubt, jede Maschine und somit jede Technik durch symbolische - d.h. schriftliche - Prozessierung zu implementieren, wird die Grenze von sogenannter Software-Technologie zu Literatur und Kunst, zwischen Patent- und Urheberrecht ebenso fließend und in der Konsequenz willkürlich wie die zwischen Urheber- und Nutzungsrecht. Wenn es also nötig ist, bisheriges Urheber-, Patent- und Nutzungsrecht zu revidieren, ist es dann realistisch für das Internet und andere digitale Informationssysteme eine verbriefte radikale Freiheit der Information, des Kopierens und Zitierens zu fordern? Und hat freie Information (oder ,,Open Content``) eine eigene Poetik und Ästhetik, besondere Schreib- und Leseweisen? Zitate, Parodien und Appropriationen in der Kunst Nicht nur das meiste Wissen, sondern auch die meiste Literatur und Kunst ist jedermann frei verfügbar und fällt nicht unter das Urheberrecht. Denn es ist nur eine Ausnahmeregelung für die Werke lebender Autoren und erlischt siebzig Jahre nach dem Tod des Urhebers. Dem Buchdruck insgesamt ging es, wie Gutenbergs Bibel zeigt, zunächst nur darum, vorhandenes freies Wissen zu multiplizieren. Erst später entwickelte sich eine Literatur, die genuin für den Buchdruck konzipiert wurde, Sebastian Brants ,,Narrenschiff`` zum Beispiel, dessen Erstausgabe 1494 erschien, fünfzig Jahre nach Gutenbergs Erfindung. Das ,,Narrenschiff`` ist eine puritanische Moralsatire in Versform, ein Katalog menschlicher Laster, von denen jedes durch eine Narrenfigur personifiziert und in einem Kapitel abgehandelt wird. Text und Illustrationen sind, zumindest in den frühen Kapiteln des Buchs, nach einem strikten Schema komponiert: Einem dreizeiligen Motto folgt ein Holzschnitt der Narrenfigur, dann die Kapitelüberschrift und schließlich 4+30 Verszeilen, die in der Baseler Erstausgabe die Druckseiten exakt, d.h. ohne Weißraum am Kapitelende ausfüllen. Text und Bild wurden also dem Druckspiegel angepaßt und nicht umgekehrt. Man stelle sich analog vor, ein zeitgenössisches elektronisches Musikstück würde so komponiert, daß es auf die Ziffer genau die 5,2 Milliarden beschreibbaren Bits einer CD ausfüllen würde. Das ,,Narrenschiff`` ist deshalb eines der ersten Werke einer massenreproduzierbaren Medienkunst, einer Kunst also, die ihr Medium nicht als zufälligen, austauschbaren Zeichenträger begreift, sondern sich aus seinen technischen Parametern heraus formal konstruiert. Das medienkünstlerische Konzept des ,,Narrenschiffs`` erwies sich als so erfolgreich, daß bis 1509 nicht nur fünf Originalausgaben des Buchs erschienen, sondern, kurz nach der Erstveröffentlichung zahllose unautorisierte Nachdrucke, unter anderem in Straßburg und Augsburg. Da ein Urheberrecht in der Frühneuzeit noch nicht existierte, gerieten Buchveröffentlichungen zu einem kommerziellen Wettlauf zwischen Erst- und Nachdruckern. Bereits die zweite Baseler Edition des ,,Narrenschiffs`` wurde daher mit einer ,,Verwahrung`` gegen die Nachdrucker versehen, mit der die Geburtsstunde des modernen Copyrights schlug. Der Begriff des Originalwerks hat in der Geschichte der Literatur wechselhafte Konjunkturen erlebt. Daß er erst im 18. Jahrhundert zusammen mit dem Geniekünstler erfunden worden sei, erscheint mir eine zu simple Behauptung. So geht zum Beispiel das Wort ,,Plagiat``, das seit dem 17. Jahrhundert verbürgt ist, zurück auf den spätantiken Epigrammdichter Martial, der einen Konkurrenten, der seine Pointen kopiert und für eigene Erfindungen ausgegeben hatte, ,,Plagiarius``, Kindesräuber nannte (Martial I,52). In satirischer Dichtung wie der von Martial und Sebastian Brant entbehren die Invektiven gegen die Plagiatoren insofern nicht der Ironie, als natürlich auch Parodien nicht möglich sind ohne die Aneignung anderer Texte oder den impliziten Rekurs auf sie. Ein aktuelles Beispiel ist der Roman ,,The Wind Done Gone`` der amerikanischen Schriftstellerin Alice Randall, der Margaret Mitchells ,,Gone with the Wind`` (,,Vom Winde verweht``) aus der Perspektive einer schwarzen Halbschwester von Scarlett O'Hara neu erzählt. Am 25. Mai 2001 hob ein New Yorker Berufungsgericht eine von den Mitchell-Erben erwirkte Verfügung auf und entschied, daß ,,The Wind Done Gone`` kein illegitimes Plagiat sei, sondern eine zulässige Parodie und durch das Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt. Davon, wie unscharf die Unterscheidung von Parodie und Plagiat ist, erzählt die Kurzgeschichte ,,Pierre Menard, Autor des Quijote`` von Jorge Luis Borges. Der ,,Don Quijote``-Roman des (fiktiven) spätsymbolistischen Dichters Pierre Menard ist zwar bis auf die Autorensignatur in jedem Wort identisch mit dem ,,Don Quijote`` von Cervantes. Doch durch die Neuzuschreibung eines Texts des frühen 17. an einen Schriftsteller des späten 19. Jahrhunderts gewinnt derselbe Wortlaut eine völlig andere Bedeutung: ,,Es ist eine Offenbarung, hält man den Quijote Menards vergleichend neben den von Cervantes. Dieser schrieb beispielsweise [...] ,... die Wahrheit, deren Mutter die Geschichte ist [...].` Verfaßt im 17. Jahrhundert, verfaßt von dem ,Laienverstand` Cervantes', ist die Auszählung nichts weiter als ein rhetorisches Lob auf die Geschichte. Menard dagegen schreibt: [...,Die Wahrheit, deren Mutter die Geschichte ist.`] Die Geschichte, Mutter der Wahrheit: dieser Gedanke ist überwältigend. Menard, Zeitgenosse von William James, definiert die Geschichte mitnichten als eine Erforschung der Wirklichkeit, sondern als deren Ursprung. Mit Borges' Erzählung ließe sich argumentieren, daß Plagiate, Raubkopien zwar ein juristischer Tatbestand sein mögen, aus ästhetischer Sicht aber keine Form der Aneignung illegitim oder unoriginell sein kann, ja, schon jede neue Lektüre eines Texts ein Plagiat ist, weil sie erstens seine Zeichen wiederholt und zweitens ihn zwangsläufig unzeitgemäß wahrnimmt und genau wie Menard in eine moderne Sichtweise transkribiert. Der ,,Pierre Menard`` ließe sich somit als eine Allegorie aller Leser, Kritiker und Philologen deuten. Nicht nur ist jede Parodie ein (Teil-)Plagiat, jedes Plagiat ist, ob beabsichtigt oder nicht, auch eine Parodie. Der moderne Begriff der literarischen Parodie wurde maßgeblich geprägt von dem russischen Literaturwissenschaftler Michail Bachtin und seiner Theorie der ,,Dialogizität`` aus den 1920er Jahren. An Dostoevskijs Romanen hatte Bachtin beobachtet, wie sich ein Text maskiert, indem der die Sprache seiner Figuren spricht. Später identifizierte Bachtin diese Sprachmaskierung als formatives Merkmal des Romans überhaupt, das er, am Beispiel von Rabelais' grotesken Romanen, auf eine volkstümliche Lachkultur zurückführte und auf die karnevalistischen Parodierung hoher Kunst und offizieller Diskurse. Die strukturalistische Literaturtheorie der 1960er Jahre, besonders die frühen Schriften von Julia Kristeva, destillierten aus Bachtins Theorie der hybriden Maskierung und parodistischen Doppelzüngigkeit im Romanwort einen neuen Begriff der ,,Intertextualität``, der sich seitdem als allgemeiner Terminus für die Bezugnahme von Texten auf Texte durchgesetzt hat. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht kann Intertextualität nicht von einer Anti-Intertextualität unterschieden werden, denn jeder Text besteht aus Buchstaben, Wörtern und Phrasen, die dem Sprachrepertoire (Paradigma) entnommen werden. Jedes Sprechen ist Zitieren. Intertextualität wird plagiatorisch, wenn Zeichenketten von einer hohen Komplexität und Unterscheidbarkeit - wie zum Beispiel der gesamte Romantext des ,,Don Quijote`` - in einem zweiten Text wiederkehren. So kennzeichnet die Kunst des 20. Jahrhunderts eine systematische Verletzung von geistigem Eigentum, die nicht erst mit postmoderner Zitaten- und popkultureller Sampleästhetik einsetzt, sondern bereits in den Collagen der Kubisten, Futuristen und Dadaisten beginnt, in den Montageromanen und Joyce und Döblin und der Montagemusik von Cage und Zimmermann. Hieran zeigen sich ähnliche Unschärfen und Widersprüche wie in der Abgrenzung von Urheber-, Nutzungs- und Patentrecht: Juristischen Anstoß erregten künstlerische Zeichenappropriationen erst, als sie von den hochkulturell geschützten Avantgarden in Populärkultur migrierten und man Hiphop-Musiker wegen unautorisierten Samplings verklagte. ,,Open Content``-Projekte Wenn es eine jahrhundertalte Poetik und Ästhetik des Intertextuellen gibt, gibt es dann auch eine neue Ästhetik des freien Codes? Ein sowohl klassisches, als auch schlechtes Beispiel ist das ,,Project Gutenberg``, das noch vor der Erfindung des World Wide Web eine öffentliche digitale Bibliothek der Weltliteratur erstellen wollte; schlecht ist sein Beispiel deshalb, weil es einen provinziellen Literaturkanon mit editorischem Dilettantismus und unklarer Lizenzpolitik verbindet. Unter der Flagge des ,,Open Content`` segeln, neben Musikern, die ihre Tondateien unter freien Lizenzen vertreiben, eine Reihe von Mitschreibprojekten, von denen mir vor allem drei bekannt sind: * ,,Open Theory``, eine deutschsprachige politische Diskursplattform PDS-naher Marxisten aus dem Umfeld der Mailingliste ,,Oekonux``. Eine einfache Web-basierte Schreiboberfläche erlaubt es, Essays kollaborativ als Kette von Kommentierungen zu verfassen. Alle Texte, die auf ,,Open Theory`` entstehen, werden unter die GNU Free Documentation License gestellt. * Lawrence Lessig, Jura-Professor an der Harvard University und mit seinen Kollegen Ebden Moglen, dem Juristen hinter der GNU General Public License, und James Boyle der führende Rechtstheoretiker des Internets und Freier Software betreibt eine juristische Website ,,Open Law`` sowie neuerdings das Projekt ,,Creative Commons``. ,,Creative Commons``, das zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Texts noch nicht online war, soll eine zentrale Anlaufstelle für Freie Software und ,,Open Content``-Projekte werden und über verschiedene freie Lizenzen beraten. * Nupedia, eine noch im Enstehen begriffene freie Enzyklopädie, deren Artikel redaktionell aus Texten ausgewählt werden, die auf der offenen Web-Schreibplattform WikiPedia entstehen. Das Projekt einer freien Enzyklopädie wurde ursprünglich vom GNU-Projekt angeregt, mittlerweile ist GNUpedia in der Nupedia aufgegangen. Sollten Projekte wie die Nupedia einmal kritische Masse gewinnen (wofür auch das GNU-Softwareprojekt fast zehn Jahre lang brauchte), so würden Sie vor allem die Wissenschaften vor interessante Herausforderungen stellen. Indem ,,Open Content``-Plattformen die kollaborativen Produktionsweisen freier Softwareentwicklung übernehmen, adaptieren sie Methoden, die ihrerseits von den Wissenschaften und ihrem Prinzip des kollektiven peer review übernommen wurden. Nur wird die Wissenserzeugung der Open Content-Projekte durch ihren Umweg über die Freie Software keineswegs wieder zu traditioneller Wissenschaft. So, wie das Copyleft traditionelle Zitierfreiheit letztlich neudefiniert und radikalisiert hat, entkleidet Freie Software-Entwicklung wissenschaftliche Arbeitsweisen aller institutionellen Rituale und ständischen Hierarchien. Ihre nüchterne Meritokratie drückt sich zum Beispiel darin aus, daß der Entwicklungschef des stabilen, für Endnutzer vorgesehenen Linux-Kernels ein 18jähriger Brasilianer ist. Allerdings fällt jeder quantitative und qualitative Vergleich von ,,Open Content``-Schreibprojekten mit freier Software ernüchternd aus, erst recht, wenn man bedenkt, daß der Start von http://www.opencontent.org bereits vier Jahre zurückliegt. So ist ,,Open Content`` virulenter als potentielles Lizenzierungsmodell für bestehende freie Informationsangebote, denn als ein Konzept, das eigene Angebote generiert oder kommerzielle Geschäftsmodelle in Frage stellt. Noch mehr gilt dies für die Künste. Das verbreitete Argument, daß ohnehin nur die wenigste Künstlern leben von der Publikation ihrer Werke leben könnten - Lyrikbände selbst namhafter Autoren haben zum Beispiel selten Auflagen von mehr als wenige hundert Stück -, verkennt zum Beispiel die Notwendigkeit und Kosten eines professionellen Lektorats, der Redaktion, Übersetzung und Edition. Öpen Content" ist daher kaum interessant für privatwirtschaftliche Verlage, die berechtigterweise auf traditionellen Urheberrechtsschutz angewiesen sind, um professionell arbeiten zu können, sondern vielmehr eine Herausforderung für den öffentlichen Sektor. Im Zeitalter des Internets müssen unbequeme Fragen gestellt werden, wie zum Beispiel: Warum werden öffentlich finanzierte Forschungsergebnisse durch Verlage oder gar Patente proprietarisiert? Warum müssen staatlich finanzierte Literatur-Editionen nicht unter freier Nutzungslizenz ins Internet gestellt werden? Warum gilt ähnliches nicht für öffentlich bezahlte Auftragsarbeiten: Dramen für Stadttheater, Kunst am Bau, Auftragskompositionen? Warum sind gebührenfinanzierte Produktionen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nicht öffentlich verfügbar, sondern werden lizenzkostenpflichtig in Rundfunkarchiven gehortet? Zuletzt Das Schlagwort ,,Open Content`` führt mittel- und langfristig auf den Holzweg, wenn man sich der ihm eingeschriebenen Ideologie von Form und Inhalt entledigt. Die Gegenspieler haben dies schon begriffen, wenn sie per ,,Digital Rights Management`` und kryptographischen ,,Fingerabdrücken`` Nutzungskontrollen direkt in Datenströme einkodieren. Im Richtungskampf über die künftige Ordnung digitalen Wissens können sogenannte digitale ,,Inhalte`` nicht von digitalen Formaten, Software- und Hardware-Architekturen separiert werden, die ihrerseits politisch und ästhetisch codierte Schriften sind. ©Dieser Text unterliegt der Open Publication License Version 1.0 http:// opencontent.org/openpub/ und darf gemäß ihrer Bestimmungen frei kopiert und weiterverwendet werden. -- http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/homepage/ http://www.complit.fu-berlin.de/institut/lehrpersonal/cramer.html GnuPG/PGP public key ID 3200C7BA, finger cantsin@mail.zedat.fu-berlin.de ------------------------------------------------------- rohrpost - deutschsprachige Liste fuer Medien- und Netzkultur Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost http://post.openoffice.de/pipermail/rohrpost/ Ent/Subskribieren: http://post.openoffice.de/cgi-bin/mailman/listinfo/rohrpost/