Tilman Baumgaertel on Tue, 6 Aug 2002 12:55:22 +0200 (CEST)


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[rohrpost] Im Trüben fischen


http://www.nzz.ch/2002/08/06/fe/page-article882MS.html

Zeitzeichen

Im Trüben fischen

Wozu dienen Internet-Foren? - Einige Beobachtungen

Internet-Foren haben die Art der schriftlichen Kommunikation entscheidend
verändert. Die Diskussionsbeiträge haben auf Grund der geringen Mühe, die
ihre Übermittlung kostet, zu einer Entwertung ihrer Inhalte geführt. Die
Hoffnung auf eine Demokratisierung des Kommunikationsprozesses ist längst
verpufft: Angesichts verbreitet unreflektierter Äusserungen macht sich
Ernüchterung breit. Zur Hebung des Niveaus der Online-Diskussionen wäre ein
Mindestmass an Umständlichkeit erforderlich.



einrieder: Meine Sympathie gilt den Palästinensern, weil ich mich schon
immer für die Schwächeren eingesetzt habe.

1krügerlbitte: Tja, einer, der sich in einem voll besetzten Café in die
Luft sprengt, ist ja wahrlich der Schwächere!!!

einrieder: O Gott . . . wieso ist das Leben so genial und das Hirn so
beschränkt!

dertisch: Wenn sich Israelis und Palis gegenseitig umbringen, ist das in
etwa so wichtig, als wenn in Peking ein Fahrrad umfällt . . .

dertisch, Nachtrag 3 Minuten später: Kümmert euch doch lieber um Österreich
und nicht um diese Idioten! Wenn alle mit so viel Engagement in der
Kinderporno-Krise agieren würden, wäre vielen Kindern viel Leid erspart
worden.

frizzdog: Nur ein Pech, dass das Fahrrad auf deine Ölpipeline fällt. Eine
blöde Geschichte: du wirst bald dein Moped verschrotten müssen . . .

antizionist: Es kommt gerade sehr viel Rauch aus der Geburtskirche.

Aus einem Diskussionsforum des ORF zum Thema «Nahost: Eskalation ohne Ausweg»

Das Internet versprach in seinen Anfangsjahren neben dem leichten Zugang zu
Information vor allem auch die Möglichkeit, sich zu artikulieren und an
Diskussionsprozessen teilzunehmen. Manche sahen gar den Lichtstreif einer
demokratischeren Gesellschaft. Liest man sich heute durch einige
Internet-Foren, macht sich schnell Ernüchterung breit. Offensichtlich
mangelt es meist an analytischem Denken, an Diskussionsdisziplin, an
Argumentationshierarchien oder auch Selbstreflexion. Es wäre jedoch zu
einfach, dies auf eine ungenügende Ausbildung oder fehlende
Diskussionserfahrung zurückzuführen. Es ist das Medium selbst, welches
Struktur und Inhalte bestimmt.

Der ORF etwa versteht sein Diskussionsforum als offene und demokratische
Plattform: «Rund um die Uhr wird hier über aktuelle Themen diskutiert. Alle
können lesen - alle können publizieren. Bitte bleiben Sie sachlich und
bemühen Sie sich um eine faire und freundliche Diskussionsatmosphäre. Die
Redaktion übernimmt keinerlei Verantwortung für den Inhalt der Beiträge,
behält sich aber das Recht vor, krass unsachliche, rechtswidrige oder
moralisch bedenkliche Beiträge zu löschen beziehungsweise nötigenfalls User
aus der Debatte auszuschliessen.»

Für die «User» geht es in der Regel nicht um Kriege, nicht um Innenpolitik,
gesellschaftliche Skandale oder Katastrophen. Das eigentliche Anliegen
besteht darin, unter dem Vorwand inhaltlicher Auseinandersetzung andere zu
Reaktionen zu nötigen. Jeder behauptet seine Welt, seine Weltsicht.
Auffallend ist das Missverhältnis zwischen der Belanglosigkeit der
transportierten Inhalte und der affektiven Beteiligung, mit der diese
vorgetragen werden. Die Dramen, die es zu beklagen gibt, erweisen sich bei
genauerem Lesen nicht selten als Gelegenheiten, die eigene enge Welt stabil
zu halten. Viele Beiträge lassen an rasch zusammengezimmerte Flösse denken,
die jederzeit zu kentern drohen. Aber vom Untergang ist niemand bedroht.
Erweist sich ein Gefährt als unbrauchbar, wird aus dem reichlich
vorhandenen Treibgut an Informationen rasch ein neues Floss gebastelt. Alle
Antworten scheinen vorgegeben, bereits formuliert, ehe das Ereignis
stattfand. Ob sich Mitteilungen auf die Ereignisse in Israel, auf die
Innenpolitik, auf Pornoskandale oder Tierdramen beziehen: Die Welt dient
nur noch als Futter für die eigenen Projektionen. Es geht nicht um
Partizipation an der Welt, sondern um die Verhäuslichung einer bedrohlich
gewordenen Welt.

Viele Texte lesen sich, als seien sie in die Luft gesprochen. Es gibt keine
wirklichen Adressaten, auch wenn sich die Absender gegenseitig ansprechen
oder auf Äusserungen reagieren. Es fällt auf, dass in Internet-Foren
wirkliche Fragen an die Angesprochenen fast vollkommen fehlen.
Bezeichnenderweise finden sich viele Phantasienamen. Letztlich bleiben die
meisten Teilnehmer anonym, in ihrer häuslichen PC-Welt gefangen.
Internet-Foren haben wenig mit Öffentlichkeit zu tun, wie die
Meinungsforschung spiegeln sie bestenfalls Stimmungslagen. Eine Analyse der
verwendeten Decknamen wäre sicher eine interessante sprachwissenschaftliche
Untersuchung. Warum nennt sich jemand «meine nur», ein anderer «blinde
kuh», wieder ein anderer «der unmündige bürger», «what I mean» und so fort?

Das Internet ist, bei allen Möglichkeiten, die es sonst bietet, auch so
etwas wie eine Art Fäkalraum, eine Bedürfnisanstalt. Ein Forum erlaubt es,
bereits wenige Augenblicke nach der Eingabe das Ergebnis eigener
Absonderungen narzisstisch zu bewundern. Reinigende Defäkation, geruchs-,
geschichts-, beziehungs- und distanzlos.

Egon Friedell sah im Brief den vollendetsten geistigen Ausdruck des
Menschen des achtzehnten Jahrhunderts. Für seine Zeit reklamierte er die
Postkarte, nicht ohne hinzuzufügen: Wenn einmal «das Problem der drahtlosen
Telegraphie» derartig gelöst sein werde, dass «jedes Haus eine selbsttätig
telegraphische Station» habe, so werde jeder gesunde Mensch hierin das
normale Verständigungsmittel erblicken. - Verständlicherweise bedienen wir
uns jener Mittel, welche den geringsten Energieaufwand erfordern.
Allerdings übersehen wir dabei schnell, dass jede neue Technologie des
Informationstransfers nicht nur Form und Inhalt, sondern auch das
Verhältnis jener, die sich des Mediums bedienen, neu bestimmt.

Kommunikation bedarf, soll sie gelingen, neben einem geteilten Interesse
eines Mindestmasses an Unmittelbarkeit und Anwesenheit. Nun liesse sich
einwenden, dass das Internet es ermöglicht, auf eine bislang unbekannte Art
mit anderen Menschen in Beziehung zu treten, etwa Menschen zu finden,
welche bestimmte sexuelle Vorlieben teilen, sich mit anderen, die man nie
sah, über Geheimnisse zu unterhalten, über die man kaum mit den engsten
Freunden spräche. Wir kennen das Phänomen von Nähe, die erst durch Distanz
möglich ist. Im Internet kann jemand sehr weit von jemand anderem entfernt
sein, und dies auch dann, wenn der andere in der Nebenwohnung lebt; nur
darf man sich dessen nicht bewusst sein. Solche Kontakte funktionieren in
der Regel meist nur deshalb, weil sich die Akteure nicht kennen, weil sich
die eigenen Vermutungen oder Projektionen nur bedingt überprüfen lassen.

Ähnlich wie die angemessene Unmittelbarkeit scheint aber auch die rechte
Mittelbarkeit im Internet zu fehlen. Die Zeitverzögerung, welche der
traditionelle Postverkehr mit sich brachte, hat sich allemal günstig auf
die vermittelten Inhalte ausgewirkt. Wohl ohne Mühe liesse sich nachweisen,
dass sich mit jedem Beschleunigungsschub auch jene Zeit verringert hat, die
für das Schreiben einer Mitteilung verwendet wird. Je schneller ein Medium,
umso mehr scheint der Inhalt an Bedeutung zu verlieren. Das Verschicken und
Empfangen von Botschaften auf elektronischem Weg hat auf Grund der geringen
Mühe, die es macht, zu einer Entwertung der Botschaften geführt. Die Mühe,
einen Brief zur Post zu tragen, erfordert nicht nur eine gewisse
Anstrengung. Die damit verknüpfte zeitliche Verzögerung schafft Abstand des
Schreibenden zu sich selbst. Im herkömmlichen Brief war immer auch ein
Nachdenken über sich selbst angelegt, er war ebenso an sich selbst wie an
einen anderen gerichtet.

Das Internet existiert noch nicht lange genug, um seine künftigen
Entwicklungsmöglichkeiten abzusehen. Es wird neue Diskussionsformen geben,
Spielregeln dafür, wie man sich mit Menschen verständigen kann, die man
nicht kennt. Voraussetzung dafür wird jedenfalls ein Mindestmass an
Umständlichkeit sein, Hürden, die eingebaut werden oder zu denen sich die
Nutzer verpflichten. Wird es eine wirkliche Diskussionskultur im Internet
geben, so wird diese nicht zum Nulltarif zu haben sein, es wird näher zu
bestimmen sein, was es heisst: «Jeder kann lesen, jeder kann publizieren.»

Bernhard Kathan

  







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