Maria Schmucker on Sat, 7 Sep 2002 11:30:06 +0200 (CEST) |
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[rohrpost] Richard Rorty über die Aussenpolitik der USA |
Der unendliche Krieg Die permanente Militarisierung Amerikas: Wie die Regierung Bush den 11. September für den eigenen Machterhalt ausgenutzt hat / Von Richard Rorty Ein Jahr nach dem 11. September haben sich die USA immer noch nicht mit einigen der schwierigsten Fragen aus dieser Katastrophe auseinandergesetzt. Niemand etwa hat erläutert, wie die Regierung wirksame Sicherheitsmaßnahmen gegen das Einschmuggeln nuklearer oder biochemischer Waffen in Schiffscontainern treffen will. Man ahnt: Die Behörden wissen, dass es gar keine Vorsichtsmaßnahmen gibt, die neue terroristische Angriffe ausschließen oder auch nur wesentlich einschränken könnten. Aber die Behörden werden der Öffentlichkeit kaum sagen, dass der Regierung wenig Besseres eingefallen ist als die Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen auf den Flughäfen. Das mag zwar weitere Flugzeugentführungen verhindern, nur sollte man nicht annehmen, dass Terroristen nur Flugzeuge entführen. Doch Regierungen müssen ihren Bürgern gegenüber eben so tun, als unternähmen sie etwas – irgendetwas, um jene Sicherheit herzustellen, die der Steuerzahler glaubt, mit seinen Steuern erkaufen zu können. Zunächst hat der Einsatz militärischer Macht in Afghanistan den Wunsch der Öffentlichkeit befriedigt, die Regierung solle „etwas tun“. Aber das reichte nicht. Die Steuerzahler müssen glauben, dass die Regierung immer noch etwas tut. Es genügt nicht, eine neue Bürokratie einzurichten, das „Department of Homeland Security“. Also haben wir seit elf Monaten viele kryptische Äußerungen von Präsident Bush und seinen Kabinettsmitgliedern gehört, die allesamt suggerieren, man bereite irgendeine Art von Angriff auf den Irak vor. Allerdings hat die Regierung nie behauptet, der Sturz Saddam Husseins würde die Wahrscheinlichkeit terroristischer Akte wesentlich verringern. Die Reaktion der Regierung auf zukünftige Angriffe wird bei der Beantwortung der Frage, wie diese verhindert werden können, kaum eine Rolle spielen. Denn diese Reaktion wird vorwiegend aus Militärschlägen gegen kleinere Länder bestehen, wobei es praktisch keine Rolle spielt, ob diese Schläge tatsächlich irgendeine terroristische Organisation behindern. Amerika wird wahrscheinlich ein beliebiges Land angreifen, sobald sich ein mit dem 11. September vergleichbarer Akt des Terrorismus ereignet – nur damit alle sehen, dass Washington „etwas tut“. Libyen darf sich auf einen solchen Angriff einrichten, falls die terroristischen Attacken auch nach dem Sturz Saddams weitergehen sollten. Aber obwohl der Afghanistankrieg al-Qaida durchaus geschwächt haben mag, werden derartige Organisationen vermutlich lernen, ihr Personal rascher von einem Ort zum anderen zu transferieren als eine langsam und massiv reagierende Supermacht ihre Zieloptik ändern kann. Niemand weiß genau, weshalb sich die Regierung den Irak als nächstes Ziel ausgesucht hat. Die simpelste Hypothese lautet: Man hat der amerikanischen Öffentlichkeit bereits beigebracht, dass Saddam Hussein „schlimmer als Hitler“ ist; daher bedarf ein Angriff auf den Irak keiner langen Entschuldigung. Dass das Land von einem blutigen Tyrannen regiert wird, gilt als hinreichender Grund dafür, es als gefährlichen Feind zu behandeln. Ein militärischer Einsatz gegen den Irak ist, dieser Theorie zufolge, der einfachste Weg für die Regierung zu zeigen, dass sie entschieden und machtvoll handelt, wie es einer Supermacht gebührt. Eine andere Erklärung für einen bevorstehenden Irak-Krieg könnte darin liegen, dass es Bush und seinen Beratern schwer fällt, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als auf das Ölgeschäft. Dort sind der Präsident, Vizepräsident Cheney und viele der mächtigsten Geldgeber der Republikaner zuhause. Vielleicht erfordert es die Logik der Branche – vor allem hinsichtlich der Erschließung der zentralasiatischen Ölfelder –, dass man den Irak eliminiert oder dem Willen von Texas unterwirft. In den linken US-Medien wird viel in dieser Richtung spekuliert, und man kann es nicht einfach von der Hand weisen. Aber diese Hypothesen werden spekulativ bleiben. Schließlich wissen wir zwölf Jahre später immer noch nicht, inwieweit der Golfkrieg das Resultat bestimmter Ölinteressen war. Die wahren Gründe neuer Aktionen gegen den Irak dürften ebenso geheimnisvoll bleiben. Natürlich gibt es eine andere Möglichkeit: Vielleicht weiß die amerikanische Regierung etwas, was wir nicht wissen. Vielleicht hat die CIA tatsächlich solide Geheiminformationen, die zeigen, dass der Irak bald in der Lage sein wird, Raketen abzufeuern, die Tel Aviv, Riad und Teheran unbewohnbar machen würden. Vielleicht gibt es wirklich eine Parallele zwischen der Notwendigkeit, Hitlers Wiederaufbau der deutschen Militärmaschinerie zu verhindern, und der Notwendigkeit, die Wiedererrichtung der im Golfkrieg zerstörten Waffenfabriken des Irak zu verhindern. Vielleicht ist das Risiko des Wartens größer als das offensichtliche Risiko von Chaos im Nahen Osten, wenn der Irak wieder angegriffen wird. Doch falls solches Beweismaterial existiert, beabsichtigt die Regierung Bush keineswegs, es auch nur dem Kongress vorzulegen, geschweige denn dem amerikanischen Volk. Das letzte, was Bush und seine Berater wollen, ist eine echte öffentliche Diskussion, welche die Ansicht ins Wanken bringen könnte, die sie unbedingt festigen wollen: die Ansicht, dass wir uns bereits „im Krieg“ befinden; dass deshalb der Präsident dieselben Machtbefugnisse bekommen muss wie Roosevelt im Zweiten Weltkrieg und ebenso frei sein muss von jeder Notwendigkeit, sich vor irgend jemandem zu verantworten. Insbesondere muss der Präsident das Recht haben, alles geheim zu halten, was er will – selbst seine Gründe dafür, sich dieses und nicht jenes Land als Angriffsziel auszusuchen. Niemand hätte sich kurz nach dem 11. September träumen lassen, dass die Behauptung, wir befänden uns bereits „im Krieg“, so ausgereizt werden würde. Die Regierung beansprucht nun das Recht, US-Bürger, die im Verdacht der Verbindung zu terroristischen Organisationen stehen, zu „enemy combatants“ zu erklären, feindlichen Kriegführenden, und das Recht, sie unbegrenzt und ohne gerichtliche Anhörung gefangen zu halten. Laut Justizministerium wäre die nationale Sicherheit gefährdet, wenn man entsprechende Geheimdienstinformationen den Bundesrichtern vorlegen würde. Eine solche Regierung kann sich fast alles erlauben. Vor diesem Missbrauch der Staatsmacht hat die Linke seit dem 11. September gewarnt, aber nur wenige hätten es für möglich gehalten, dass Justizminister Ashcroft es wagen würde, in so kurzer Zeit so weit zu gehen. Es liegt im Interesse der Republikaner sicherzustellen, dass die Nation so lange wie möglich „im Krieg“ bleibt. Diejenigen, welche die Partei kontrollieren – eine gierige und zynische Oligarchie ohne Interesse an Bürgerrechten oder Wohlfahrt –, würden nichts lieber sehen als eine Neuauflage jener Situation, die 1944 zur beispiellosen Wiederwahl Roosevelts in eine vierte Amtszeit führte. Diese Wahl wurde mit dem Slogan „Man wechselt nicht mitten im Fluss die Pferde“ entschieden. Jede neue Terrorattacke wird die Wiederwahl Bushs 2004 wahrscheinlicher machen, denn sie wird es den Republikanern ermöglichen, alle Formen normaler politischer Opposition als Mangel an Patriotismus zu bezeichnen. In ihrem Interesse liegt die permanente Militarisierung des Staates, wie sie Orwell in 1984 beschrieben hat und wie sie der Titel von Gore Vidals jüngstem Buch andeutet: Ewiger Krieg für den ewigen Frieden. Man sollte meinen, die Opposition würde diese Strategie des Machterhalts aufdecken. Insbesondere sollte man erwarten, dass sich die Demokraten empören über Ashcrofts Frontalangriff auf die Bürgerrechte. Aber die Demokratische Partei ist wie gelähmt. Sie interpretiert die hohen Zustimmungswerte für Bush seit dem 11. September als Indiz dafür, jede Andeutung ihrerseits, die Regierung könne „zu hart mit Terroristen umgehen“, müsste dazu führen, dass der Wähler sie für weich und unkriegerisch hält. Angesichts einer Bedrohung, mit der niemand umzugehen weiß, wagen es beide Parteien nicht, offen mit dem Wähler zu sprechen. Kein Politiker darf eingestehen, dass Amerika zwar die einzige Supermacht ist, dass aber seine Städte unvorhersehbaren Angriffen durch nichtstaatliche Organisationen wie al- Qaida ausgesetzt sind. Gelegentlich merkt ein demokratischer Politiker an, dass es vielleicht nicht schlecht wäre, wenn ein Angriff auf den Irak auch von der UN autorisiert wäre oder wenigstens von einigen der ehemaligen Golfkriegsalliierten unterstützt würde. Selbst diese schüchternen Andeutungen werden von den Republikanern mit offener Verachtung beiseite gewischt. Außenminister Powell zeigte diese Verachtung, als sein französischer Amtskollege Zweifel an Amerikas arrogantem Unilateralismus äußerte: Der Kollege, sagte er, habe „die Vapeurs gekriegt“ – er führe sich schwächlich und weibisch auf. Jeder demokratische Senator oder Kongressabgeordnete, der Zweifel an einem Krieg gegen den Irak äußert, darf damit rechnen, dass er von Mitgliedern der Regierung als weichlicher Europhiler charakterisiert wird, unwürdig, ein öffentliches Amt auszuüben in einem Land, das dem Bösen die Stirn bieten muss. Europhile wie ich sind natürlich entzückt, dass Bundeskanzler Schröder und andere europäische Politiker solchen Zweifeln immer wieder Ausdruck geben. Wir teilen die Betroffenheit, mit der Europäer die abenteuerliche Arroganz betrachten, die unsere Regierung seit dem Amtsantritt von Bush an den Tag gelegt hat. Wir sind entsetzt darüber, dass unsere Regierung die letzten Überreste des Wilsonschen Internationalismus aus der Politik getilgt hat – und nun darauf bestehen, dass US- Soldaten nie unter dem Kommando eines Ausländers stehen werden und dass US-Kriegsverbrecher nie vor einen internationalen Gerichtshof kommen dürfen. Doch können wir uns des Gefühls nicht erwehren, dass auch die Europäer nicht wissen, was man tun sollte, und dass viele europäische Intellektuelle sich auf die Kritik an den USA beschränken, ohne viel über die langfristige Verteidigung der Zivilisation gegen den Terrorismus sagen zu können. Europa hat viel mehr Erfahrung mit dem Terrorismus als wir. Allerdings liegen die Aktivitäten der RAF und vergleichbarer Organisationen schon eine Weile zurück. Und den Megaterrorismus à la 11. September hat Europa noch nicht erlebt. Wahrscheinlich kommt das bald. Denn der Westen ist insgesamt verhasst, nicht nur in Gestalt der USA. So werden wahrscheinlich eines Tages Berlin, Paris oder Madrid den Schock erleben, der im letzten September durch New York ging. Diejenigen, die das World Trade Center zerstört haben, könnten es ebenso befriedigend finden, den Prado oder den Eiffelturm, den Potsdamer Platz oder Westminster in die Luft zu sprengen oder dort Seuchenkeime auszustreuen. Der Unterschied zwischen einer unerträglich arroganten und ungeheuer reichen Nation von Ungläubigen einerseits und diversen kleineren, sehr viel verbindlicher auftretenden, etwas weniger reichen Nationen von Ungläubigen andererseits mag für jene, die Bin Ladens großen Erfolg nachahmen wollen, nicht allzu bedeutsam sein. Wenn der Megaterror nach Europa kommt, ist es wahrscheinlich, dass alle europäischen Rechtsparteien, die sich dann gerade an der Macht befinden, die Strategie der Regierung Bush kopieren werden. Sie werden versuchen, eine demokratische Republik durch einen nationalen Sicherheitsstaat zu ersetzen – einen Staat, in dem Geheimdienste und Militär den Platz der gewählten Volksvertreter einnehmen, wenn es darum geht, über nationale Prioritäten zu entscheiden. Sie werden Maßnahmen treffen, die schließlich zu einem Orwellschen Zustand des permanenten Krieges führen werden. Linksparteien, die gerade an der Macht sind, wenn die Katastrophe eintritt, könnten in Versuchung geraten, genau dasselbe zu tun. Denn weder die Rechte noch die Linke in Europa scheinen viel über das Problem nachgedacht zu haben, das doch die Politiker in allen reichen Ländern beschäftigen sollte: Wie lassen sich die demokratischen Institutionen stärken, so dass sie in Zeiten überleben können, da Regierungen das nicht länger garantieren können, was Bush die „Sicherheit des Heimatlandes“ nennt? Das ist tatsächlich ein ganz neues Problem. Die Zivilisation wird jetzt nicht einfach durch abtrünnige Staaten wie Hitlers Deutschland oder Milosevics Serbien bedroht, sondern von Menschen, die weder im eigentlichen Sinne feindliche Soldaten noch im üblichen Sinne Verbrecher sind. Als Soldaten würden sie im Auftrag von Nationalstaaten handeln und hätten dort ihre Basis. Auch Verbrecher leben typischerweise in dem Land, in dem sie agieren, und können von der Polizei dieses Landes überwacht, unterwandert und schließlich verhaftet werden. Unsere neuen Feinde sind Menschen, die weit von unseren Grenzen entfernt operieren, und die – möglicherweise ohne Wissen der Regierung des Landes, wo sie sich gerade aufhalten – nukleare oder biologische Waffen herstellen. Sie können diese in einem Container unterbringen, der dann auf der anderen Seite der Welt von einem Schiff direkt auf einen Zug verladen wird. Dann müssen sie nur dafür sorgen, dass jemand auf einen Knopf drückt, wenn der Waggon in einer bestimmten Stadt angekommen ist. Wir nennen eine solche Person einen „Terroristen“, weil wir keinen besseren Ausdruck kennen, aber wir haben im Grunde keinen Begriff davon, welche Institutionen, welche Formen politischer Praxis wir bräuchten, um mit ihr fertig zu werden. Weder Armeen noch Polizeiapparate sind hier tauglich. Es hat sich herausgestellt, dass es nur einige zehn Millionen Dollar und ein paar zum Selbstmord bereite Leute braucht, um eine Organisation zu schaffen, bei deren Auftritten es den Westen kalt überläuft. Eine solche Organisation muss keine Regierung kontrollieren oder auch nur mit einer Regierung verbündet sein. Die Katastrophen, die reiche Monomanen wie Bin Laden herbeiführen können, gleichen eher Erdbeben als den klassischen Versuchen von Nationen, ihr Territorium zu vergrößern, oder von Verbrechern, reich zu werden. Wir stehen ebenso hilflos vor diesem Problem wie vor dem nächsten Hurrikan. Wenn wir solchen Angriffen nicht zuvorkommen können, so können wir sie doch immerhin überleben. Wir mögen sogar die Kraft haben, unsere demokratischen Institutionen selbst dann zu behalten, nachdem klar geworden ist, dass unsere Städte nie mehr unverletzlich sein werden. Wir können vielleicht an den moralischen Errungenschaften festhalten – den Fortschritten in politischer Freiheit und sozialer Gerechtigkeit –, die der Westen in den letzten Jahrhunderten erlangt hat, selbst wenn sich so etwas wie der 11. September Jahr für Jahr wiederholt. Aber das gelingt uns nur, wenn die Wähler ihre Regierungen davon abhalten, ihre Länder auf permanente Kriegführung einzustellen – sie davon abhalten, eine Situation zu schaffen, in der weder die Justiz noch die Medien Organisationen wie das FBI aufhalten können, nach Belieben vorzugehen und in der das Militär den allergrößten Teil der nationalen Ressourcen für sich beansprucht. Die Erfahrungen, welche die USA im letzten Jahr gemacht haben, sind nicht ermutigend. Aber sie können als Warnung dienen. Vielleicht werden die Europäer die Zeit, die ihnen bleibt, bis der Megaterrorismus nach Europa kommt, darauf verwenden, nachzudenken, wie sie es besser machen könnten. Der Autor lehrt Literatur und Philosophie in Stanford. Im nächsten Jahr erscheint sein Buch „Pragmatism as Hope“ (Cambridge UP). Auf deutsch wurde zuletzt „Wahrheit und Fortschritt“ (Suhrkamp 2000) veröffentlicht. Deutsch von Joachim Kalka http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/getArticleSZ.php?artikel=artikel1175.php __________________________________________________________________ Gesendet von Yahoo! Mail - http://mail.yahoo.de Möchten Sie mit einem Gruß antworten? http://grusskarten.yahoo.de ------------------------------------------------------- rohrpost - deutschsprachige Liste zur Kultur digitaler Medien und Netze Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost http://post.openoffice.de/pipermail/rohrpost/ Ent/Subskribieren: http://post.openoffice.de/cgi-bin/mailman/listinfo/rohrpost/