andreas hagenbach on Sat, 7 Sep 2002 17:00:05 +0200 (CEST)


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[rohrpost] Weltwoche Interview mit Johan Galtung


http://www.weltwoche.ch/ressort_bericht.asp?asset_id=3129&category_id=62


«Es wird mit der Atombombe enden»
David Signer und Armin Guhl

Der Friedensforscher Johan Galtung erklärt, warum Amerika im Kampf
gegen das Böse bis zum Äussersten gehen wird und weshalb George W.
Bush und Osama Bin Laden einander ähneln.

«Die Amerikaner wollen Saudi-Arabien als Öllieferanten und als
Militärbasis aufgeben und durch den Irak ersetzen»: Johan
Galtung.Herr Galtung, morgen fliegen Sie nach Sri Lanka, um zwischen
Konfliktparteien zu vermitteln. Was ist das für ein Gefühl: zu
wissen, da am Tisch sitzt jemand, der ist für Morde und Gräuel
verantwortlich?

Niemals moralisieren. Die Grundthese ist immer: Alles wäre
vermeidbar, wenn man nur schon vorher den Konflikt ernst genommen
hätte. Natürlich hat immer der andere Schuld. Also frage ich am
Anfang, wie die eine Konfliktpartei die andere sieht. Und am Ende
kommt die peinliche Frage: Was glauben Sie, wie Ihr Gegenüber Sie
betrachtet? Dann heisst es meistens: Ja, da gibt's ganz viel
Propaganda. Aber es ist eigentlich erstaunlich, wie kurz diese Phase
ist.

Was hilft, um die Situation zu entkrampfen?

Humor ist sehr wichtig. Und Metaphern. Statt die Lage in Sri Lanka zu
analysieren, etwas über Nordirland sagen. Und dann kommt immer der
Punkt, wo jemand sagt: Das ist interessant, könnten Sie das etwas
näher erklären. Meistens meldet sich dann der Amateurpsychologe zu
Wort und sagt: Ja, aber die sind völlig anders als wir. Ich
präsentiere oft Schweizer Lösungen. Ja, die Schweizer, heisst es
dann, die sind eben nicht so heissblütig wie wir. Aber eigentlich
weiss jeder, dass es nicht darum geht.

Die erste Voraussetzung aber ist wohl, dass sich die Konfliktparteien
an einen Tisch setzen.

Nein, die Diplomaten machen immer den gleichen Fehler: Sie wollen die
gegnerischen Parteien um einen einzigen Tisch setzen. Das geht nur,
wenn sie alle gut vorbereitet und bereits auf einer "höheren Ebene"
sind, auch geistig. Konfliktlösung hat mit Kreativität zu tun, und
niemand ist kreativ, wenn er einem Mörder gegenüber sitzt, und zwar
dem Mörder seiner Verwandten, Nachbarn. Dann verlangt man von ihm,
kreativ zu sein, während sein Blut kocht? Das geht nicht.

Konkret: Wie würden Sie einen Krieg zwischen Amerika und dem Irak vermeiden?

Es ist immer eine Frage der Zielsetzungen der verschiedenen Parteien.
Die Ziele des Iraks sind einfach. Sie haben mit Grenzziehungen
gegenüber Kuwait und Iran zu tun, mit der gemeinsamen Ausbeutung der
Ölfelder, mit der Devisenlage nach dem Krieg 1980-1988. Wenn man über
das Verbrechen der Besetzung Kuwaits - damals 19. Provinz des Iraks,
der Teil des Osmanischen Reichs war - durch britische Truppen am Ende
des 19. Jahrunderts gesprochen hätte, hätte man auch viele Probleme
nicht gehabt.

Welche Interessen hat Amerika?

Meine These ist, dass es den Amerikanern darum geht, ein Land zu
finden, das Saudi-Arabien ersetzen kann. Die USA werden Saudi-Arabien
aufgeben und es als Feind verstehen. Wenn 19 Araber, 15 von ihnen aus
Saudi-Arabien, am 11. September das World Trade Center und das
Pentagon in den USA angreifen, dann könnte es sein, dass das etwas
mit Saudi-Arabien und diesen Gebäuden zu tun hat. Diese These findet
man auch in der Weltwoche nicht. Sie ist zu klar und zu einfach.

Sie glauben also, dass Saudi-Arabien hinter den Anschlägen steckt?

Nein, der Wahhabismus. Er ist die Staatsreligion in Saudi-Arabien,
sehr fundamentalistisch und dem Puritanismus auf amerikanischer Seite
sehr ähnlich. Das hat mit Tiefenkultur zu tun. Aber das eigentliche
Problem ist der Vertrag zwischen den USA und Saudi-Arabien von 1945.
Er ist den meisten unbekannt. Dort steht, dass die USA Zugang zu den
Ölquellen haben, im Gegenzug garantieren sie der Herrscherfamilie den
Schutz gegen Opposition. Denn die al-Sauds wussten: Was wir jetzt mit
dem schwarzen Gold tun, ist mit dem Wahhabismus nicht vereinbar. Sie
haben die Bevölkerung bestochen, und es hat funktioniert. Bis zum 11.
September. Niemand in den USA hat verstanden, dass es eine grausame
Beleidigung für den Glauben dieser Leute war. Denn der Wahhabismus
ist asketisch, geistig, nichtmaterialistisch: Geld zerstört die
Verbindung zu Allah. Die Wahhabiten verbieten jegliche Ausschmückung
der Moscheen. Und nun kam im Kielwasser des Öls all dieses Geld.
Jetzt hat das Königshaus ein grosses Problem: Ist es auf der Seite
der Amerikaner oder des Wahhabismus? Um zu überleben, ist es
plötzlich ganz wichtig geworden zu zeigen, dass sie gute Wahhabiten
sind. Sie sagten den USA kurz nach dem 11. September: Raus. Die
Amerikaner waren empört und überrascht. Und versuchten den Medien
weiszumachen, dass es nicht wahr war. Es war aber wahr. Meine These
ist also: Der Irak ist ein Ersatzland für Öl und Militärbasen.

Er kann aber vom Ölvolumen her nie Saudi-Arabien ersetzen.

Doch. Die Ölvorräte in Saudi-Arabien scheinen zur Neige zu gehen.

Die Argumentation der USA, Saddam Hussein halte
Massenvernichtungsmittel bereit, sei eine Gefahr für den
Weltfrieden...

...ist falsch. Sie haben etwas gehabt, aber das ist alles zerstört.
Die USA haben den Irak ja selber mit "kritischem Uran" bombardiert,
und das ist Massenvernichtung. Es geht um das, was die Psychologen
"Projektion" nennen.

Projektion?

Das Problem sind nicht die Massenvernichtungswaffen. Die USA haben
eine Liste von Grundsätzen. Die ist lang und nicht öffentlich. Man
muss zum Beispiel wissen, was JCS 570/2 ist.

Was ist das?

Ja, sehen Sie. Das ist die strategische Bibel der USA von 1944. Sie
skizziert die Weltordnung nach dem Zweiten Weltkrieg, und alles, was
dort steht, haben sie umgesetzt.

Wollen Sie damit sagen, dass sich an der Zielsetzung der
amerikanischen Aussenpolitik seit sechzig Jahren nichts geändert hat?

Überhaupt nichts. Alles nur eine Frage von Gelegenheit und
Möglichkeit. Die geopolitische Doktrin der USA seit Anfang des
Jahrhunderts lautet: Wer Osteuropa beherrscht, beherrscht
Zentralasien, wer Zentralasien beherrscht, beherrscht Eurasien. Und
wer Eurasien beherrscht, beherrscht die Welt. Die Welt beherrschen
bedeutet zweierlei: den Welthandel kontrollieren und militärisch
dominieren. Dafür standen das World Trade Center und das Pentagon.
Die amerikanische These, die Anschläge hätten sich gegen die
westliche Zivilisation gerichtet, ist nicht stichhaltig. Es ging ganz
konkret gegen die ökonomische und die militärische Dominanz Amerikas.

Also kein Kampf der Kulturen?

Die Amerikaner sind überzeugt, sie seien von Gott auserwählt und die
USA seien ein gelobtes Land. Gegen dieses gelobte Land Gewalt
auszuüben, ist ein Verbrechen gegen Gott. Bisher haben dies nur zwei
Mächte gewagt: die Japaner und die Terroristen. Bei Japan endete es
mit zwei Atombomben, deshalb ist es wahrscheinlich, dass es auch
diesmal mit Atombomben enden wird. Mit göttlichen Waffen.

Atombomben gegen den Irak?

Nein. Wenn die Amerikaner einen Verdichtungspunkt finden, die Quelle
des Übels, könnten sie sie einsetzen. Nicht weil es militärisch
effektiv ist, sondern psychologisch. Das Fegefeuer. Für die
Amerikaner war, noch vor Hiroshima und Nagasaki, klar, dass Japan
kapituliert hatte. Sie hatten nicht Rache im Sinn, sondern Strafe.
Das ist die amerikanische Tiefenkultur: Wir sind so hoch oben, so
nahe bei Gott, dass die normalen Gesetze der Menschheit nicht auf uns
anwendbar sind. Internationale Gesetze? Ja, aber nur wenn sie unseren
Zielen dienen. Uno-Truppen sind Feiglinge. Denn die eigentliche
militärische Arbeit besteht darin zu töten, und das machen wir.

Wenn Sie amerikanischer Präsident wären, was hätten Sie am 12.
September gemacht?

Ich hätte Larry King gebeten, eine Stunde mit Bin Laden zu
verbringen. Dann hätte CNN seine Partner von Al-Dschasira angerufen,
um die geeignete Grotte zu finden... Kein Witz. Larry King hat ein
ausserordentliches Talent. Wobei: Vielleicht wären zwei Sendungen
besser. Zuerst Larry mit Georgie, dann Larry mit Ossi. Und dann sagt
Larry zu Georgie: Ossi hat jetzt das und das gesagt. Direkt wäre es
vielleicht nicht gegangen.

Sie vermuten Bin Laden hinter den Anschlägen?

Bin Laden hat den bekannten Text verfasst, in dem steht, jetzt seien
endlich die Amerikaner gedemütigt worden, nachdem mehr als achtzig
Jahre lang die Muslime gedemütigt worden seien. 1916/17 waren die
schlimmsten Jahre in der arabischen Geschichte. (Das
Sykes-Picot-Abkommen von 1916, in dem England und Frankreich ihre
Interessesphären im Nahen Osten absteckten, wurde von den Arabern als
Verrat empfunden, weil es ihre Hoffnung auf Unabhängigkeit
enttäuschte; die Balfour-Deklaration von 1917 ebnete den Weg zur
Gründung des Staates Israel, A.d.R.). Aber ich glaube nicht, dass die
Anschläge von Bin Laden organisiert wurden. Er war selber überrascht.
Die 19 Attentäter hatten das organisiert. Experten in Ägypten und
Pakistan meinen, dass es al-Qaida gar nicht gebe. Sie sei in
Washington erfunden worden. Die Amerikaner bräuchten so ein
Phantombild.

Die USA haben aber nicht sofort zurückgeschlagen, sondern erst mal
Allianzen gebildet.

Die Entscheidung war sofort klar. Aussenminister Colin Powell sagte:
"We are going to identify al-Qaeda and crush it." Die Uno ist nur aus
einem Grund interessant: Legitimierung. Ausserdem braucht die
Kriegsvorbereitung Zeit. Der Krieg gegen Saddam wird wahrscheinlich
im Oktober losgehen.

Dass sich eine Nation nach einem Terroranschlag militärisch wehrt,
ist doch legitim.

Ich verstehe es völlig. Aber es wird nichts lösen. Es wird weitere
Gegenschläge provozieren, schlimmer als am 11. September.

Die USA sollen noch die andere Wange hinhalten?

Ach, überlassen Sie das den Christen! Ich mache sehr konkrete
Vorschläge. Gewalt schafft Gegengewalt...

...aber ist oft die einzige Option. Siehe Hitler.

Falsch, es gab eine wunderbare Option: die Revision des Versailler
Vertrags. Man hätte nicht das ganze deutsche - und nur das deutsche -
Volk bestrafen sollen. Diesen Fehler hat man 1945 ja auch nicht
wiederholt. Was die Ablehnung des Versailler Vertrags betrifft, hatte
Hitler die Unterstützung der Deutschen, in den andern Punkten, etwa
der Judenvernichtung, nicht.

Aber hatte man 1939 noch Alternativen? Oder am 11. September?

Nein, 1939 nicht mehr. Am 11. September auch nicht. Aber im Mai
vergangenen Jahres wäre noch vieles möglich gewesen. Ich habe damals
sechs Punkte vorgeschlagen: 1. Truppen raus aus Saudi-Arabien. Das
wäre vielleicht eine annehmbare Entschuldigung gewesen für die
Demütigung. 2. Ja zu einem palästinensischen Staat. Über Details
hätte man nachher reden können. 3. Herausfinden, was die eigentlichen
Zielsetzungen des Iraks sind. 4. Einen Dialog mit Chatami im Iran. 5.
Keinen Krieg gegen Afghanistan, um Ölquellen zu erobern und eine
Militärbasis zu haben, weil dies genau das Bild bestätigt, das die
Araber von den Amerikanern haben. 6. Versöhnung zwischen Amerikanern
und arabischen Opferländern, und zwar nach dem Vorbild der Deutschen.
Die haben das nach dem Krieg meisterhaft gemacht. Wenn man von den
sechs Vorschlägen drei im Mai realisiert hätte, hätte es keinen 11.
September gegeben.

Sie geben fast alle Schuld Amerika, aber das Land hat doch der Welt
auch viel gebracht: Freiheit, es ist die älteste Demokratie...

Klar gibt es innerhalb der USA eine gewisse Demokratie. Ich habe acht
Jahre dort gelebt. Das heisst aber nicht, dass die Amerikaner auch
auf der Weltbühne demokratisch sind. Sie haben keinen Respekt vor der
Uno oder vor einem internationalen Gerichtshof. Demokratie bedeutet
nicht nur Wahlen, sondern auch Respekt und Dialog. Gemeinsam neue
Lösungen finden. Wann haben die USA einen Dialog mit al-Qaida zu
führen versucht?

Aber Sie sagen selber, das waren 19 Individuen, Selbstmordattentäter.
Kann man mit solchen Leuten einen Dialog führen?

Vielleicht nicht mit den 19, aber mit ihren Familien, den
Angehörigen, Nachbarn. Stattdessen bestätigt Washington jeden Tag die
Annahmen der Fundamentalisten. Am 30. Mai unterzeichneten die USA
einen Vertrag mit Turkmenistan über eine Pipeline. Es geht um Öl aus
Nordafghanistan und Kandahar. Damit werden alle Vorurteile bestätigt.

Aber es ist doch gut, dass die Taliban gestürzt wurden, auch wenn es
nur ein Nebeneffekt war.

Ja. Aber dann gäbe es viele Regimes, die man wegbomben müsste. Und es
war vielleicht nicht mal im Interesse Afghanistans. Man sollte die
Taliban weiterhin in die nationale Regierung einbinden. Eine
hundertprozentige Taliban-Regierung ist schrecklich. Aber eine ganz
ohne sie ist auch keine Lösung. Es gibt bessere, gewaltfreiere
Methoden, eine Regierung abzulösen. Erinnern Sie sich an die
Montagsdemonstrationen in der DDR. Ich bin nicht aus moralischen
Gründen gegen Bombardieren; es funktioniert nicht, es ist dumm.

Sie gehen davon aus, dass jeder Mensch für gute Argumente zugänglich ist?

Nein, aber oft gibt es ein Umfeld, das zugänglich ist. Ich habe
Tausende Vermittlungsdialoge geführt. Meine Erfahrung ist, dass es in
jedem Menschen etwas gibt, worauf man bauen kann.

Kommen Sie oft selber in die Schusslinie?

Manchmal bin ich überrascht, dass ich überlebt habe. Ich bin 71,
guter Gesundheit, man hat mich bis heute nicht vergiftet. Ich bekomme
manchmal böse Briefe, aber das ist nicht so schlimm. Ich versuche
einfach, lösungsorientiert zu arbeiten. Ich glaube, dass es Lösungen
gibt. Meistens ist das für die Leute eine gute Nachricht, weil sie
glauben, es gebe keine Alternativen mehr.

Wie zum Beispiel in Israel.

Auch da gibt es eine Lösung, allerdings keine bilaterale. Dafür gibt
es zu viel Hass, Leiden, Blut. Aber es könnte eine Lösung geben unter
Einbezug der Nachbarländer. So wie es keine Lösung hätte geben können
nur zwischen Deutschland und Frankreich, aber zusammen mit andern
europäischen Ländern ging es. Bilateralen Hass abbauen in
multilateralem Umfeld. Ich habe diese Ansicht die letzten Jahre oft
eingebracht, und ich glaube, sie reift langsam. Vielleicht ist es in
fünf Jahren so weit.

Warum sollte der Stärkere nachgeben?

Weil er in Wirklichkeit der Schwächere ist. Er sieht nur stark aus.
Hätte Bush nach dem 11. September gesagt: Offenbar haben wir die
religiösen Gefühle vieler Menschen in Saudi-Arabien beleidigt, und
hätte er die amerikanischen Truppen aus Saudi-Arabien zurückgezogen,
hätte ihn die ganze arabische Welt umarmt. Und er hätte fünzig
Milliarden Dollar gespart. Aber Bush hat nicht das persönliche Format
hierfür. Er ist ein Instrument.

Der Ölindustrie?

Es ist komplizierter und hat wieder mit der Tiefenkultur zu tun. Für
Bush war der Terrorschlag ein "cultural assault", ein Angriff auf die
amerikanische Kultur. Bush ist davon überzeugt, dass die Amerikaner
eine kulturelle Botschaft haben. Sie in die Welt zu tragen, ist seine
eigentliche Mission. Öl und Militär sind nur Nebensachen, bequem für
die Marxisten und die realpolitische Analyse. Aber die kulturelle
Analyse bringt uns weiter.

Was ist denn die Tiefenkultur der Deutschen?

Die hat sich verändert, bis zu einem bestimmten Punkt. "Am deutschen
Wesen soll die Welt genesen" war ein Ausdruck dafür. Die
Ausstrahlung. Dass in der Gesellschaftsstruktur und in der
Persönlichkeit etwas eingebaut sei, was für die Welt ein Geschenk
sei. Deshalb müssten die Deutschen oben sein. Diese Einstellung gab
es schon lange vor Hitler. Zur Kaiserzeit, etwa ab 1200. Heute ist es
anders.

Aber Schröder spricht neuerdings vom "deutschen Weg".

Das macht mir Angst. Ich möchte gerne einen menschlichen Weg finden.
Ich sage immer: Ich finde es wunderbar, wenn die Deutschen auf der
Suche nach einem Sinn sind. Wenn sie ihn gefunden haben, dann wird es
ernst. Dann glauben sie daran.

Was uns noch mehr interessieren würde: die Tiefenkultur der Schweizer...

...lässt sich thesenartig in einem Satz zusammenfassen: "Wir sind ein
Sonderfall, wir stehen ganz ausserhalb der Welt, und deswegen sind
wir nicht nachahmbar." Darum sind die Schweizer auch nicht so gute
Botschafter für die Welt. Ich glaube, dass die Schweiz eine Menge
gute Lösungen gefunden hat. Aber warum machen sie nicht mehr daraus?
Weil sie denken, dass dies nichts für andere Leute ist. Ich schlug
einmal bei einer Konferenz vor, Kosovo als unabhängiges Land mit
einem oder zwei serbischen Kantonen zu konzipieren. Man könnte alles
zweisprachig anschreiben, wie die viersprachig beschrifteten
Milchkartons in der Schweiz. Als Beispiel zeigte ich eine Schweizer
Zehnernote. Die Leute hatten keine Ahnung, dass so etwas überhaupt
existiert und möglich ist. Kein Schweizer ist da gewesen, um ihnen zu
sagen: Wir haben ein Modell, das interessant ist. Interessant auch
für Afghanistan mit seinen zwölf Nationen.

Und dennoch haben Sie gewisse Sympathien für den schweizerischen Sonderweg.

Wenn man eine alternative Politik hat, muss man dafür einstehen. Das
kann man auch in der EU. Aber dann muss man sagen: Ja, wir möchten
Mitglied sein, und wir würden gerne Folgendes bewirken. Die Schweiz
sagt das nie. Stattdessen fordert sie, den Gütervekehr von der
Strasse auf die Schiene zu verlegen, aber das betrifft ja nur die
Schweizer. Deswegen sind sie keine guten Demokraten, denn Demokratie
ist Dialog, und da muss man reden.

Die Schweizer sind keine guten Demokraten?

Gegenüber der EU. Ich sähe beispielsweise gerne, dass die Regierung
sagen würde: Wir haben Volksentscheide in der Schweiz, Initiativen
und Referenden. Ist die EU dazu bereit?

Das ist aber nicht der Grund, warum Sie in Frankreich wohnen und
nicht in der Schweiz?

Ich schaue die Schweiz gern an. Aber man sieht besser, wenn man ein
bisschen ausserhalb ist.

Wie steht es denn mit der Lernfähigkeit von Nationen?

Es ist tragisch, aber es scheint, dass es meist nur über Katastrophen
geht. Es ist ja genau dasselbe mit den Individuen. Sie kommen zum
Therapeuten, wenn sie eine schlimme Krise erlebt haben. Es wäre aber
nicht schlecht, wenn sie früher kommen würden.

Welches Land gehört denn Ihrer Ansicht nach vor allem auf die Couch?

Heute wären die USA der Hauptkandidat. Es müsste also eine ganz
grosse Couch sein. Aber ich glaube auch, dass die USA die Fähigkeit
haben umzudenken. Nicht heute, aber vielleicht morgen. Ich könnte mir
vorstellen, dass ein Präsident kommen wird, der sagt: "Americans, I
have an important message tonight: Wir sind nicht allein, aber
meistens sind wir selber daran schuld, wenn wir Probleme haben."

Mit welchem Menschen würden Sie jetzt am liebsten eine Stunde verbringen?

Mit Bush und Bin Laden. Ich lehne beide als Fundamentalisten ab, sie
haben dieselbe Tiefenkultur. DMA, wie ich das nenne: Dualismus,
Manichäismus, Armageddon. Dualismus: Die Welt ist zweigeteilt.
Manichäismus: Es gibt die Bösen und die Guten. Armageddon: Das kann
nur mit einer Endschlacht entschieden werden.

Bei welchem der beiden hätten Sie mehr Hoffnung auf ein gutes Gespräch?

Also, der Intelligentere ist bestimmt Bin Laden. Wenn Intelligenz
eine Zugangstür ist, könnte ich diese Tür öffnen. Auch bei Bush gäbe
es etwas: das Amerikanische. Ich könnte ihn fragen: Wäre es nicht
besser für Amerika, sich durch Demokratie und Dialog auszuweisen? Wie
zum Beispiel mit einer Initiative für ein Uno-Parlament. Eine Stimme
pro Million Einwohner. Das heisst 270 Stimmen für die USA, aber 1250
Stimmen für die Chinesen. Es wäre problematisch, aber die Welt würde
die USA umarmen.

Und die Amerikaner hätten nichts mehr zu sagen. Einmal umarmt, und
das wäre das Ende.

Nein, sie hätten immer noch 270 Stimmen. Sie könnten sich gut
vorbereiten, und das machen sie ja auch häufig, wenn sie gut arbeiten.

Und Sie glauben, Bush würde sagen: Yes, Mister Galtung, you are right?

Die Frage war nur, mit wem würde ich gerne zusammentreffen... Im
Übrigen bin ich nicht davon überzeugt, dass der Weg über Bush oder
Bin Laden gehen muss.

Sie sind Optimist. Aber wenn man wie Sie davon ausgeht, dass Bush und
Bin Laden Brüder im Geiste sind, was das Ziel der Endschlacht angeht
- da müsste man doch verzweifeln.

Oder die beiden analysieren. Es geht jetzt eine Welle von Kritik am
Fundamentalismus durch die arabische Welt, weil die Araber zu Recht
sagen: Die verbreiten ein schlechtes Bild des Islams in der Welt. Ich
erwarte jetzt dieselbe Bewegung in den USA, gegen den amerikanischen
Fundamentalismus. Das kommt. Da bin ich zuversichtlich.

© 2002 «Die Weltwoche», Zuerich



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