Tilman Baumgaertel on Fri, 13 Sep 2002 11:15:09 +0200 (CEST) |
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[rohrpost] Game on / Play! Rezensionen |
http://www.taz.de/pt/2002/09/13/a0200.nf/text Verschwende deine Jugend Die Ausstellung "Game On" im Londoner Barbican erzählt vom schrankwandgroßen PDP-1 bis zum Hype um das Mafia-Game "Grand Theft Auto 3" die Geschichte des Computerspiels. In Deutschland wäre der Technikparcours undenkbar, weil er auf kritische Kommentare zur simulierten Gewalt verzichtet von TILMAN BAUMGÄRTEL Es piepst, es pfeift, es knallt und tutet. So laut geht es auf Ausstellungen selten zu. Wer sich bei der documenta schon über zu viel medialen Input beklagt hat, dürfte hier wahrscheinlich schnell durchdrehen: In der Ausstellung "Game on" im Londoner Barbican Kulturzentrum wird man ununterbrochen mit elektronischem Lärm beschallt. In den Ausstellungshallen, in denen sonst älteres Publikum leise Präsentationen von Fotografie und Malerei abschreitet, toben Kinder und Teenager um die Exponate und durch die Gänge. Der Lärm kommt aus hunderten von Rechnern und Spielkonsolen. Denn "Game on" erzählt die Geschichte des Computerspiels. Kurz nach ihrem 40. Geburtstag sind nun auch Computerspiele museumsreif geworden und werden von Barbican mit einer riesigen und aufwendig ausgestatteten Ausstellung gewürdigt. In der Pressemappe wird fast der Eindruck erweckt, als sei die Schau eine Art Affirmative Action Programm für junge Männer, die sonst eher selten ihren Weg in Kulturinstitutionen finden. "Game On" ist nach "The Art of Star Wars" - über die Gestaltung der "Krieg der Sterne"-Filme - schon die zweite Ausstellung am Barbican, die versucht, diese Zielgruppe von der Straße wieder in ein Museum zu locken. Bei "Game On" erfährt sie nicht bloß allerhand über die Entwicklung einer eigenen Sprache von Computerspielen, sondern kann diese vor allem auch spielen. Über 150 Games können die Besucher selbst ausprobieren - aber bitte keins länger als fünf Minuten: Um den Publikumsandrang unter Kontrolle zu behalten, gelten die Eintrittskarten nur zwei Stunden. So viel Zeit könnte man freilich schon im ersten der insgesamt 15 Säle verbringen, in dem die frühesten Computerspiele zu besichtigen sind. Auf dem PDP-1, einem Computer von der Größe einer Wohnzimmerschrankwand, entwickelte 1962 der Student Steve Russell am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston das Spiel "Space War!", das heute als erstes Computerspiel gilt. Gleich neben dem unförmigen Rechner steht eine "Pong"-Konsole von Atari. Mit dem kleinen weißen Punkt, der wie eine Pingpong-Kugel zwischen zwei weißen Strichen hin und her flog, begann 1972 die Entwicklung kommerzieller Computerspiele, die in Bars und Spielhallen aufgestellt wurden. Es sind vor allem Männer über 30, die länger bei diesen computerisierten Spielautomaten aus den 70er- und frühen 80er-Jahren stehen bleiben und eine nostalgische Runde "Tempest", "Space Invaders" oder "Asteroids" nach der anderen einlegen. Die meisten der Konsolen dürfte man hier wohl zum letzten Mal benutzen können, denn die wenigen Geräte, die es heute noch gibt, sind alt und gehen schnell kaputt. In diesem Raum findet sich auch "Pac Man", das erste Spiel, das eine eigene Hauptfigur mit einem gewissen Identifikationspotenzial besaß, und "Donkey Kong", in dem der bis heute aktive, knollennasige italienische Installateur Super Mario seinen ersten Auftritt hatte. Wie man nebenbei erfährt, ist Super Mario bei amerikanischen Kindern unter 10 heute bekannter als Mickey Mouse. Es folgen Präsentation von wichtigen Spielkonsolen und Spielen der Gegenwart - bis hin zu den Karatehieben bei einer Partie "Mortal Kombat". Beleuchtet werden auch die verschiedenen Gamer-Kulturen in den USA und Japan. Die Amerikaner bevorzugen harte Ballerspiele, während in Japan kontemplative Games, bei denen man mit einer Angel in einem virtuellen Teich fischt oder eine U-Bahn durch Tokio lenkt, zu den Verkaufserfolgen zählen. Hierzulande würde wahrscheinlich schon die unkommentierte Präsentation von ausschließlich kommerziellen Spielen Proteste auslösen. Dieser Art von Marketing steht "Game on" relativ unkritisch gegenüber. An vielen Stellen der Präsentation merkt man auch, dass neben Barbican-Kurator Conrad Bodman mit Lucien King ein ehemaliger Videospielproduzent am Werk war, der sich sehr für Konsolentypen und Chipgeschwindigkeiten interessiert, aber kaum für Videospiele als soziokulturelles Phänomen. Die schriftlichen Kommentare sind dürftig, sie gehen neben den wesentlich aufmerksamkeitsintensiveren Spielen unter. Auch die zehn Kunstwerke, die das Barbican als Begleitung zur Ausstellung in Auftrag gegeben hat, gehen im Getöse von "Max Paine", "Super Mario World" und "Wolfenstein" recht sang- und klanglos unter. In Deutschland wäre eine derartige Ausstellung im Augenblick wohl unmöglich. Zu tief steckt noch der Schock des Erfurter Amoklauf, der ja auch Computerspielen angelastet wurde - ob zu Recht oder zu Unrecht, sei mal dahingestellt. "Game On" ignoriert die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen Games und Jugendgewalt gibt, und konzentriert sich ganz auf die Ästhetik und die Geschichte des Computerspiele. Diese Unverkrampftheit geht so weit, dass die Ausstellung sogar das Entstehen des Spiels "Grand Theft Auto 3" minutiös dokumentiert. "GTA 3", wie es von seinen Fans kurz genannt wird, ist schon Gegenstand von hitzigen Debatten im britischen Unterhaus und im amerikanischen Senat gewesen, wo es als "Anleitung zu einer Verbrecherkarriere" bezeichnet wurde. Denn Ziel des Spiels ist es, zum Boss eines Mafiasyndikats aufzusteigen; Mord, Drogenhandel und Verfolgungsjagden mit der Polizei gehören dabei zu den "Missionen", an denen der Spieler sich versuchen muss. In einem eigenen Raum wird die Entstehung des Spiels, das von einer schottischen Tochterfirma des amerikanischen Spieleherstellers "Rockstar Games" entwickelt worden ist, in aller Ausführlichkeit dargestellt. Man sieht Bleistiftsskizzen von den verschiedenen Spielfiguren, einen Plan des Spielfeldes, eine Art Stammbaum aller Mitarbeiter und sogar einen Auszug aus dem Computercode des Spiels. Bloß spielen kann man dieses Spiel nicht - es ist in Großbritannien erst ab 18 freigegeben. Bis zum 15. September im Barbican Art Center in London, ab 15. Oktober im Museum of Scotland in Edinburgh. Über weitere Stationen in Europa und den USA wird zurzeit verhandelt. taz Nr. 6852 vom 13.9.2002, Seite 17, 229 Kommentar TILMAN BAUMGÄRTEL, Rezension taz muss sein: Was ist Ihnen die Internetausgabe der taz wert? Sie helfen uns, wenn Sie diesen Betrag überweisen auf: taz-Verlag Berlin, Postbank Berlin (BLZ 100 100 10), Konto-Nr. 39316-106 © Contrapress media GmbH Vervielfältigung nur mit Genehmigung des taz-Verlags zurück ---------------------------------------------------------------- URL dieses Artikels: http://www.netzeitung.de/servlets/ page?section=585&item=205510 Vom Aussterben bedrohte Spiele 06. Sep 07:53 Kaum jemand kümmert sich um die dringend nötige Archivierung des digitalen Kulturguts. Immerhin widmeten sich zwei Ausstellungen in London und Rom nun der Geschichte des Computerspiels. Von Tilman Baumgärtel Pong? War das nicht dieses Computerspiel, bei dem man einen kleinen, rechteckigen weißen Ball zwischen zwei länglichen «Schlägern», oder genauer gesagt, Strichen, hin und her hopsen lassen musste? Genau. Und Pong war auch das Spiel, das aus dem Nichts einen vollkommen neuen Wirtschaftszweig entstehen ließ, in dem heute mehr Geld umgesetzt wird als in der Musikindustrie oder in Hollywood: die Computerspielbranche. Trotzdem ist es gar nicht so leicht, heute noch ein funktionierendes Exemplar dieses Spieles aufzutreiben. Im Internet gibt es zwar inzwischen eine Reihe von Emulatoren: Software, mit der man alte Spiele auf dem PC zu neuem Leben erwecken kann. Aber nach der Originalkonsole aus den 70er Jahren muss man schon lange suchen: am besten auf Flohmärkten oder beim Internet-Auktionshaus Ebay. Und auch die Emulatoren funktionieren nur auf den heute gängigen Computern. Wenn die PCs und Macs der Gegenwart einmal von vollkommen neuen Rechnertypen abgelöst werden, wird man Emulatoren der heutigen Rechner benötigen, um die Emulatoren von einst auf ihnen laufen lassen zu können. Game on – Game over Es sind nicht nur die Spiele, sondern digitales Kulturgut jeder Art, das sich darum in der steten Gefahr befindet, spurlos zu verschwinden. Zwar hat digital gespeicherte Information den Vorteil, verlustfrei kopierbar zu sein und darum eigentlich besonders leicht erhalten werden zu können. Aber gleichzeitig sind alle diesen Daten auch von schnell verschleißender Hardware und von rasch unbrauchbarer Software abhängig. Bisher gibt es weltweit kaum Institutionen, die versuchen, den unaufhaltsamen Datenverlust durch Archivierung oder Musealisierung zu begegnen. In diesem Sommer haben nun gleich zwei Ausstellungen den Versuch unternommen, wenigstens Computerspiele, und damit den populärsten Teil der digitalen Kultur, aufzuarbeiten und in einem Museum zu präsentieren. Die Ausstellung «Play» im Palazzo delle Espositioni in Rom und «Game On» im Londoner Barbican waren nach der amerikanischen Wanderausstellung «Videotopia» und «Game over» am Züricher Museums für Gestaltung erst der vierte Versuch, das Phänomen des Computerspiels in einer größeren Ausstellung zu präsentieren – und das, obwohl Computerspiele nicht nur unter Jugendlichen inzwischen zu den beliebtesten und prägendsten Freizeitbeschäftigungen gehören. Auf historischen Konsolen hämmern Beide Ausstellungen halten sich an die Geschichte des Videospiels, die durch diverse Veröffentlichungen langsam zum Kanon wird: Auf dem PDP-1, einem Computer von der Größe einer Wohnzimmerschrankwand, der in London sogar zu sehen ist, entwickelte der Student Steve Russell 1962 am Massachusettes Institute Of Technology (MIT) in Boston das Spiel «Space War!», das heute als erstes Computerspiel gilt. Gleich neben dem unförmigen Rechner steht im Barbican eine «Pong»-Konsole von Atari. Mit dem Spiel begann 1972 die Entwicklung kommerzieller Computerspiele, die in Bars und Spielhallen aufgestellt wurden. Es folgen die verschiedenen Konsolentypen von der Atari 2600 bis zur Xbox, neben denen ab den 90er Jahren auch der PC als Spielplattform immer wichtiger wird. Beide Ausstellungen hätten jedoch in Konzeption und Ausrichtung nicht unterschiedlicher sein können: Während «Play» in Rom auf eine leicht distanzierende Präsentation der Spiele setzte und einen umfangreichen didaktischen Apparat anbot, ist «Game On» vor allem eine große Schießbude: «Play 150 Games for free», steht schon auf den Plakaten der Ausstellung, was sich die meisten Besucher nicht zweimal sagen lassen. Die vorwiegend männlichen Gäste hämmern auf Teufel komm raus auf die historischen Geräte ein - für viele von ihnen wohl die letzte Gelegenheit, noch einmal einen Klassiker wie «Space Invaders» oder «Donkey Kong» auf den Originalautomaten zu spielen. Projizierte Spiel-Filme Im Gegensatz dazu präsentierte sich «Play» viel mehr als Ausstellung im klassischen Sinn, die wenig Wert auf Interaktion und viel auf Darstellung legt. Die Wände waren in einer cleveren Ausstellungsarchitektur hinter halb- durchsichtigen Kunststoffen verborgen, auf die zum Teil von hinten durchgespielte Games projiziert wurden, zum Teil aber auch Bilder, Texttafeln und Diagramme von vorne appliziert waren. Wie ein Besucher in einer Gemäldeausstellung schritt der Besucher von einer Leinwand zur nächsten, um die von über 50 Video-Projektoren gezeigten Spiel-Filme zu betrachten. Ein besonderer Schwerpunkt bei «Game on» ist der Musik in Computerspielen gewidmet, und spätestens hier wird deutlich, wieso es zunehmend wichtiger wird, auch Games als Kulturgut zu erhalten. Denn gerade in der Musik zeigt sich die enge Verzahnung von Videospielen und anderen Bereichen populärer Kultur. Stammten die ersten Spiel-Soundtracks noch von Bastler-Komponisten, die mit raffinierten Programmiertricks die beschränkten Soundchips der ersten Homecomputer überlisteten, sind es heute Bands wie Orbital, Prodigy oder Chemical Brothers, die Stücke zur musikalischen Untermalung von erfolgreichen Spielen wie «Wipe Out» beitragen. Digitale Kultur im Museum Wie in der Filmbranche werden diese Soundtracks zum Teil auch als CDs veröffentlicht. Ähnliche Möglichkeiten zum Crossmarketing bietet die Verwendung von Spiel-Motiven als Vorlage für meist recht verunglückte Filme wie «Super Mario Brothers», «Resident Evil» oder «Final Fantasy». Umgekehrt werden bekannte Filme als Videospiele ausgeschlachtet, so zum Beispiel «Star Wars» oder «Tron» – letzterer übrigens einer der seltenen Fälle, bei denen das Spiel erfolgreicher war als der Film. «Game on» wird demnächst auch im schottischen Nationalmuseum zu sehen sein. Dort sollen die Exponate, die für die Show angeschafft wurden, dann auch in einer Dauerausstellung gezeigt werden. In Großbritannien ist die digitale Kultur also museumsreif geworden, anders als in Deutschland: in Berlin musste das kleine, von einer privaten Initiative betriebene Computerspielmuseum vor zwei Jahren schließen, weil der Betrieb nicht mehr zu finanzieren war und sich die Stadt nicht an den Unkosten beteiligen wollte. Die Ausstellung «Game on» ist noch bis zum 15. September im Barbican Art Center in London zu sehen, ab dem 15. Oktober 2002 im Museum of Scotland in Edinburgh. MEHR IM INTERNET Play http://play.tiscali.it/ Game on http://www.gameonweb.co.uk/ Computerspielemuseum http://www.computerspielemuseum.de/ ------------------------------------------------------- rohrpost - deutschsprachige Liste zur Kultur digitaler Medien und Netze Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost http://post.openoffice.de/pipermail/rohrpost/ Ent/Subskribieren: http://post.openoffice.de/cgi-bin/mailman/listinfo/rohrpost/