Gerrit Gohlke on Sun, 9 Mar 2003 21:34:31 +0100 (CET)


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[rohrpost] Net.art deceased: Buchneuerscheinung


ESC
Der Tod der Netzkunst

76 Seiten mit 85 schwarz-weißen Abbildungen, 6 Essays, einer 19seitigen 
kommentierten Chronik zur Netzkunst zwischen 1994 und 1999 und dem 
Entwurf einer Anleitung für Netzkünstler. Mit Beiträgen von Natalie 
Bookchin, Timothy Druckrey, Gerrit Gohlke, Olga Goriunova, Verena Kuni, 
Alexei Shulgin, Yvonne Volkart. 8,00 EUR. ISBN 3-932754-34-4.

http://www.media-arts-lab.org/escape/

"An welcher Krankheit leidet - vielleicht auch: starb - die Netzkunst? 
Die Antwort ist ziemlich eindeutig: am Eindringen der Kunstinstitutionen 
und deren Autoritäten in die ehemals autonome Zone." (Olga Goriunova)

"net.art war bekanntermassen von vorneherein als befristetes projekt, 
als autodesctructive genre angedacht, auf jeden fall ohne illusionen 
gegenueber dem new economy hype." (Pit Schultz auf rohrpost)



Die ersten Verabschiedungen der Netzkunst erschienen Ende der neunziger 
Jahre, kaum fünf Jahre nach dem Aufkommen der ersten öffentlichen 
Projekte im Netz. Armin Medosch öffentliches "Adieu" an die Netzkunst 
nannte im Sommer 1999 die beliebtesten Schuldigen: "Kuratoren, Kritiker, 
Institutionen", nicht nur weil sie der Netzkunst nicht zur Rentabilität 
verholfen haben, sondern weil sie der Netzkunstdiskussion keinen 
öffentlichkeitswirksam "gedeihlichen" Rahmen geschaffen hätten. Gerade 
die "genuinen Eigenschaften des Internet", meint Tilman Baumgärtel drei 
Jahre später, würde "der Netzkunst nun zum Verhängnis": Man bleibt 
"unter sich, und die Netzkunst wird von der Debatte über zeitgenössische 
Kunst schlicht übergangen."

Der Rückzug der Netzkunst begann aber von innen, während die Museen die 
schwer faßlichen Werke noch in ihre Videoabteilungen zu integrieren 
suchten. Heath Bunting nannte sich bereits "Netzkünstler im Ruhestand" 
als man sich von der Netzkunst noch Rendite erhoffen konnte. Die Kritik 
von innen war eine Kritik am Fortfall der ideellen Grundlagen nicht 
einer Kunstrichtung, sondern einer Bewegung - und einer Utopie.

"Es hat keinen Zweck, zeitgenössische KünstlerInnen an die 
Aufrichtigkeit der vor Jahren verfochtenen Ideen zu erinnern", meint 
Olga Goriunova. Netzkunst habe auf die "Gestaltung alternativer 
Kommunikationsräume" abgezielt. Sie vergleicht Netzkunst mit DADA und 
anderen temporären Bewegungen und "alternativen Praktiken". Denn 
Netzkunst war nicht nur ein Gegenbild zum üblichen Kunstbetrieb, sondern 
ein gesellschaftliches Interventionsinstrument, das durchaus auf die 
Veränderung der Verhältnisse zielte, nicht auf einen innerbetrieblichen 
Lebensstil.

Nicht Kunst im Internet ist deshalb tot, solange es das Internet weiter 
gibt. Man kann noch immer mit dem Internet Kunst produzieren oder 
politische Ideen vermitteln, wie Natalie Bookchin und Timothy Druckrey 
im ESC Reader betonen. Die Utopie jedoch, abseits der Gesetze des 
Kunstbetriebs und technisch auf der Höhe der Zeit KUNST ALS ALTERNATIVE 
ZUR KUNST zu produzieren, hat sich aufgelöst.

ESC versucht einen Rückblick als Diskussionsanregung, als Reader für die 
Erben, als Hinweis auf weiteren Bedarf: Bedarf vielleicht nicht 
zuallererst nach Netzkunst, sondern nach Überbrückungen eines zu 
selbstbezüglichen Kunstbetriebs.


http://www.media-arts-lab.org/escape/

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