florian schneider on Thu, 18 May 2000 13:22:32 +0200 (CEST)


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[rohrpost] die moerderische stille


Heute in der SZ (mit einem großen Foto von der Demo im Flughafen
Frankfurt nach dem Tod von Ageeb: Die mörderische Stille der
Abschiebemaschinerie durchbrechen!)

SZ vom 17.05.2000 Politik

Naimah H. erhängte sich im Transitbereich des Frankfurter Flughafens

"Selber schuld", sagt das Ministerium zum Suizid
Flüchtlingsorganisationen sprechen von anmaßender Selbstgerechtigkeit
und fordern eine Abkürzung der Asylverfahren / Von Martin Zips

Frankfurt, 16. Mai - Der Vergleich mit den jungen Leuten in Hürth bei
Köln hinkt natürlich: Unter den elektronischen Augen von "Big Brother"
schlafen sie 100 Tage lang in Containern, essen, langweilen sich in der
Sonne und trainieren mit Hanteln. Sie verzichten auf Zeitung, Freunde
und Freiheit. Sie haben die Wahl: Wenn sie rauskommen, sind sie berühmt,
vielleicht auch reich. Dann hat sich die Selbstkasteiung gelohnt.

Auch am Frankfurter Flughafen sind Menschen eingeschlossen. Auch sie
schlafen, essen, verzichten auf Zeitung, Freunde und Freiheit. Aber sie
haben eben keine Wahl: Wer im Gebäude 182/183 C bleibt, der darf auf
Asyl in Deutschland hoffen. Doch wer abgelehnt wird, dem drohen in der
Heimat Gefängnis, Folter, vielleicht auch der Tod. Wer weiß das schon so
genau? Wird ja nicht täglich im Fernsehen übertragen.

Zwischen 70 und 200 Männer, Frauen und Kinder unterschiedlicher
Herkunft, Religion und Hautfarbe leben in den zehn kleinen Zimmern der
Flüchtlingsunterkunft im sogenannten Transitbereich. Es ist heiß, und es
stinkt nach Kerosin und vergammelter Nahrung, nach Schweiß, Urin und
Desinfektionsmittel. Damit keiner abhaut, sind die Fenster des tristen
Betonbaus zugeschweißt und vergittert. Die Gänge sind verwinkelt,
überall brennen Leuchtstoffröhren, an den kahlen Mauern hängen
Kinderzeichnungen. Auf ihnen sind Soldaten zu sehen, Flugzeuge und
Bomben.

Mehr als 300 Tage im Arrest

Gelegentlich passiert ein Bus die Stahlschleuse. Er fährt die
Flüchtlinge mit den bewaffneten BGS-Beamten auf einen kleinen, mit
Stacheldraht umzäunten Rasen am Rande der Rollbahn. Dort dürfen sie den
Himmel sehen. Das Bundesverfassungsgericht hat vor vier Jahren
festgelegt, dass die Entscheidung über Einreise oder Zurückweisung
spätestens nach 19 Tagen getroffen sein muss. Dennoch gibt es Fälle, bei
denen Menschen mehr als 300 Tage in den stickigen Räumen bleiben müssen.

Naimah H. war acht Monate im Transitbereich eingesperrt, als sie sich am
6. Mai in der Dusche erhängte. Es war der erste Selbstmord in der von
der Caritas und der evangelischen Diakonie betriebenen Unterkunft.
Kirchen und Menschenrechtsorganisationen bezeichnen den Fall als Fanal
in der siebenjährigen Geschichte des "inhumanen
Flughafen-Asylverfahrens". Er beschäftigt am heutigen Mittwoch den
Innenausschuss des Bundestags.

Die Frau ohne Pass hatte sich als Algerierin ausgegeben, als Partnerin
eines Mannes, den das algerische Regime als Terrorist verfolge.
Polizisten in ihrer Heimat hätten sie geschlagen und mehrfach
vergewaltigt, erzählte sie. Das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge lehnte eine Einreise der 40-Jährigen ab. Weil
sich Naimah H. nicht an das Datum ihrer Vergewaltigung erinnern konnte,
wurde auch ihre Klage gegen die Entscheidung abgeschmettert. Die
algerischen Behörden ließen sich beim Ausstellen neuer Papiere für
Naimah H. viel Zeit. Hierzulande stellte man die Frau vor die
Alternative: Entweder sie unterschreibt eine sogenannte
Freiwilligkeitserklärung und bleibt im Flughafen-Bunker oder sie kommt
bis zum Eintreffen der Papiere in Untersuchungshaft. Am Ende entschied
sie sich für das Gefängnis, das sie schon kannte. Das lange Warten trieb
die depressive Frau in den Tod.

Naimah H. sei selber dafür verantwortlich, dass sie so lange in der
Unterkunft bleiben musste, lässt Innenminister Otto Schily (SPD) durch
einen Staatssekretär mitteilen; sie hätte ja ausreisen können.
"Anmaßende Selbstgerechtigkeit" nennt das Pro-Asyl-Sprecher Heiko
Kauffmann. Einst habe die Regierungskoalition vereinbart, das
Flughafenverfahren abzukürzen. Von "Verhältnismäßigkeit" sei die Rede
gewesen. Nichts dergleichen - unter Rot-Grün sei die Situation für die
Frankfurter Flüchtlinge noch schlimmer geworden. Waren 1997 noch sieben
Menschen länger als 100 Tage im Hochsicherheitstrakt interniert, wuchs
deren Zahl im vergangenen Jahr auf 110. Auch ein Ausbau der Unterkunft,
wie in den kommenden Monaten geplant, ändert nach Ansicht von Kauffmann
nichts an den "menschenverachtenden Zuständen" dort. Das Frankfurter
Oberlandesgericht bezeichnete 1996 die "abgeschlossenen und so eng
begrenzten Räumlichkeiten" als "Hafträume im Sinne des Gesetzes". Die
Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Marieluise Beck (Bündnis
90/Die Grünen), schlägt nun vor, die Flüchtlinge für die Dauer des
Verfahrens in ein nahe gelegenes Heim mit vielen freien Plätzen zu
verlegen und vor allem die Aufenthaltsdauer zu verkürzen.

Seit 1993 gab es über 100 Fluchtversuche; allein in den vergangenen drei
Jahren 18 Selbstmordversuche. Zwei Menschen hängten sich an einem
Lüftungsrohr auf; einer öffnete sich die Pulsadern; ein anderer
versuchte sich mit seinem Gürtel zu ersticken. Einer schlug seinen Kopf
gegen eine Doppelglasscheibe; häufig wurden verschriebene Medikamente,
meist Psychopharmaka, in Überdosis geschluckt. Die Aufmerksamkeit von
Sozialarbeitern und Zivildienstleistenden des Flughafen-Sozialdienstes
hat häufig Schlimmeres verhindert.

Nur bei Naimah H. kam jede Hilfe zu spät. Jetzt wird gemutmaßt, dass sie
gar keine Algerierin war, sondern "irgendwo aus Nordafrika" stammte. Als
ob sie das wieder lebendig machte.

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