geert lovink on 13 Aug 2000 18:07:23 -0000


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[rohrpost] Agentur Bilwet: Ontologie des Zoegerns


Ontologie des Zoegerns
Von Agentur Bilwet
Uebersetzung: Petra Ilyes

"Content kills consciousness." Johan Sjerpstra

Was du morgen besorgen kannst, das tu' niemals heute. "Wann geht der
Bus?" "Maqana, maqana." Auf dieses Prinzip des Troedelns und Zoegerns
bauen ganze Weltkulturen. Wir muessen die touristische Barriere
durchbrechen, um an dieser ueberlegenen Lebenskunst teilzuhaben. Bis vor
kurzem war es die Erfahrung des Anderen, fuer uns unerreichbar. Dank
Virilio, Sloterdijk und Gleick ist nunmehr das Zeitalter der Enthastung
angebrochen. Troedel-Gurus bieten inzwischen Managementkurse an, die
lehren, Dinge etwas langsamer anzugehen. Es geht um den Mut zum Zaudern.
Kannst du zweifeln, Mensch. Es gibt Phasen, in denen ungeplantes
Loslaufen die beste Vorgehensweise ist. Doch danach folgt die Periode
der Besinnung, in der die Resultate auf ihre Vorteile untersucht und,
wenn mvglich, angepasst werden.

In der europdischen Tradition des to-be-or-not-to-be wurde der Zweifel
als Methode Descartes' zur Lebensphilosophie erhvht. Er bietet eine
offene Verbindung zur Wirklichkeit. Das Lieber-doch-nicht hat die
bequeme Anmut, welche der resoluten Weigerung als Pose fehlt. Endloses
hin und her und es dann doch bleiben lassen. In diesem Sinn ist Easy
Listening ebenso radikal wie Punk. Das Alles-zu-seiner-Zeit-Denken baut
auf dem Erfahrungswissen auf, dass das Problem sich sicherlich von selbst
lvst, wenn man es in Ruhe laesst. Dieses Verdampfungsmodell hat sein
Pendant im apokalyptischen Modell: wenn wir nicht schnell genug nichts
tun, geht alles vor die Hunde. So klingt das Erkennungszeichen des
heutigen Unbehagens an der Kultur in seiner historischen Variante: "Wenn
die Affen damals in den Baeumen sitzen geblieben wdren, gaebe es heute
kein Problem. Vorsorgen ist besser als abstuerzen. Im Bedeutungsmangel
dieser Easy Philosophy verbirgt sich ihre groesste Kraft. Die
Unentschlossenheit triumphiert. Wer hat den Mumm, halbgare Wahrheiten zu
widerlegen? Die post-oestliche Weisheit hat nicht ldnger den Drang, alles
wiederzufinden, was die Menschheit auf ihrem Weg verloren hat
(Zivilisation, [Unter-]Bewusstsein, Glaube, Geschichte, Wirklichkeit,
etc.) Man errichtet eher einen mentalen Nebel, als leidenschaftlich in
der Muellkippe des Fortschritts zu waehlen. Die Gestaltung der Passivitaet
ist der geheime Schluessel zum 21. Jahrhundert.

Der Zweifel Descartes' ist noch funktional: er bietet Klarheit. Der
durch ihn ervffnete Raum fuer Reflexion wird geordnet. Das ist die
vernuenftigste Methode, die Wuestenei zu durchqueren. Die Skepsis des
Zauderns steht diesem gleichwertigen Gebrauch von Denkfaehigkeit
misstrauisch gegenueber. Zweifel ist keine oekologische Geste. Auf jener
Seite von Unmittelbarkeit und Interaktivitaet steht das Hinausschieben
jeder Konsequenz. Einmal abgekommen, landet man all zu schnell im
Graben. Das positive und assoziative Element der Abweichung fehlt. Die
Ueberraschung bringt wenig Neues und enttduscht, eine Ernuechterung, aus
der kein Help Desk einen Ausweg bieten kann. Hier fehlt jede religioese
Konnotation. Das Nichts nichtet - wenn es denn so waere.

Das Zaudern ist ein intellektuelles Perpetuum mobile, eine zum Erliegen
gekommene Junggesellenmaschine. Aus dem Nichtstun heraus tut man noch
weniger. Philosophien und ihre Medien dagegen sind darauf aus, Denken
stromlinienfoermig zu machen und mit einer Richtung auszustatten.
Wissbegierde will den Uebergang vom Denken zum Tun ermoeglichen. Der
Noergler braucht diese Handreichung. Das Handeln durchbricht dieses
Tretmuehle der endlosen Nvrgelei. Babygeschrei, Schule schwaenzen, Bummeln
bei der Arbeit, auf der Strasse herumhaengen, sich zu Hause gegenseitig
auf die Nerven gehen, sich plagen qua eigner Ambition, das alles
wetteifert mit den vielen Jahren, die in einem Menschenleben verschlafen
werden. Die westliche Kultur ist ein grosser Wecker, der bald auch seine
genetische Modifizierung im Wachsamkeitsgen entdecken wird. 

Die US-amerikanische Variante des Zoegerns hat etwas energisches. Eben
schnell Nachdenken, bevor man etwas tut, ist Geld wert. Doch der Mensch
des 21. Jahrhunderts ist einfach noch nicht so weit. Zweifel ist nur am
Ende der Fahrt erlaubt, in der sicheren Umgebung der Privatsphdre.
Enthastung ist eine Phase im alltaeglichen Zyklus a la eine erfrischende
Dusche oder eine Siesta. Mit dem Unterschied, dass eine Enthastung als
Gegensport ein Produkt/eine Dienstleistung ist die man sich selbst
gestatten koennen muss, um damit weiter funktionieren zu koennen. Das
Auf-der-Stelle-Treten ist ein Moment in einem oekonomischen Zyklus, der
ebenso resolut angepackt wird, wie der vorausgehende Start-up. Das ist
der Zeitpunkt, in dem die Gruender von selbsternannten Buerokraten aus dem
Unternehmen vertrieben werden. Das Chaosmanagement versucht, diese
vorhersehbare Konjunktur durcheinander zu bringen, indem permanent
alles, aber auch alles, in Frage gestellt wird. Man sucht nach einer
noch raffinierteren tempordren Bilanz, um welche Planung auch immer auf
die Beine stellen zu kvnnen. Die Strategie des Mobilisierens,
Flexibilisierens, inklusive der kreativen Destruktion, hat allerdings
einen unsichtbaren und nicht benennbaren Feind: den Zweifel. Es wird
noch immer nicht gehandelt in der verlorenen Zeit. Das ist eine Option
oder Ware, die noch nicht entdeckt ist. Proust hat vergessen, ein Patent
darauf anzumelden. Die Moeglichkeitsraeume, die sich in der Zukunft auftun
kvnnten, sind in ihrem Wesen noch unbestimmt. Das Streben nach maximaler
Undeutlichkeit liegt als (ueber-)menschliches Potential noch vollkommen
brach.

Es existiert eine Kunst des Aufhoerens, die frei von jeder Irritation
ist. Einmal hinausgezoegert, ergibt sich eine ganz andere Aesthetik, die
den Augenblick weiter so laesst, wie er ist. Das sind die
Verzoegerungsmaschinen. Die Technologie verringert den Zeitraum der
Entscheidung noch weiter. Zwischen 0 und 1 befinden sich immer weniger
Picosekunden. Wir wissen seit Jahrzehnten, dass der Entscheidungsmoment
fuer den Menschen nicht mehr existiert und kuenstlich eingebaut werden
muss. Man kann hierfuer ein kybernetisches System errichten, aber das geht
nicht weit genug. Es muessen Zweifelmaschinen auf den Markt kommen,
(Made in West-Germany?) die zielgerichtet die Sache aufhalten.
E-Commerce-Sites, die, nachdem man den Buy-Button angeklickt hat,
erst einen Tag oder so nachdenken, ob sie wirklich liefern wollen, oder
den Hinweis geben, dass man auch morgen noch vorbeikommen kann.
Ein Fotoapparat, der nach dem Druecken erst eine
unbestimmte Zeit spdter (oder frueher?) das Foto macht. Technische
Unsicherheit nicht ldnger als Bug sondern als Feature. Sobald Perfektion
garantiert ist, kommt der Kultur das spielerische Element abhanden und
die Aufmerksamkeit erlahmt. Je unwahrscheinlicher das Verhalten der
Maschine, desto interessanter die eigenen Reaktionen. Es geht darum, die
binaeren Logiken zu erweitern. Nicht nur Ja oder Nein, sondern mindestens
auch Ja und Nein als dritte Einheit, wie im Quanten-Computing.

Wo erklingt das Lied des Zweifels? Den eigenen Dreh nicht finden, ist
keine Tugend. Nietzsche schrieb auch nicht darueber. Die Zwischenstadien
von Zaudern, Bummeln und Nerven, in denen doch die meisten von uns
stecken bleiben, landen nicht im Pantheon des menschlichen Seins. In
China durfte man noch gern nach einem Schwimmer schauen und im Wasser
Kreise spucken. Nun, da der Arbeitsethos bald den gesamten Globus
umspannt und Arbeit fuer Geld gleichbedeutend ist mit der condition
humaine, ist es aus mit diesen letzten Eitelkeiten. Fortan herrscht eine
permanente geistige Mobilisierung, ohne dass das Ziel selbst, die
Arbeitsfront, je erreicht wird. Arbeit wird als Spieltherapie
betrachtet, als Teil des lebenslangen Lernens. Post-industrielle Arbeit
besteht logischerweise nicht mehr aus (physischer) Produktion, sondern
aus einer mentalen Vorbereitung auf einen produktiven Moment.
Irgendwann, irgendwo, vielleicht nie.

Jeder weiss, dass die Zukunft in Afrika liegt. Aber wer ist so weit, diese
Post-Destination ganz und gar zu akzeptieren? Die vorherrschende Meinung
ist, dass noch so viel daran getan werden muss und kann. Es gibt so
Vieles, zu dem man nicht kommt. Besser als zu trvdeln, ist es, ueberhaupt
keinen Plan zu haben. Und das nicht als meditatives Moment oder
Strategie, um den ueberlaufenen Kopf frei zu machen. Die Drosselung der
Zielsetzungen auf einen Zeitraum, der Jahrtausende umfasst, macht aus der
Landschaft der Zeit eine Hochebene, von der man nie mehr herunter kommt.

(mehr von Bilwet auf http://thing.desk.nl/bilwet)




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