Florian Cramer on 7 Nov 2000 07:50:00 -0000


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Re: [rohrpost] Re: A man says farewell (fwd)


Am Tue, 07.Nov.2000 um 00:54:29 +0100 schrieb Reinhold Grether:
> Dass ich es auch und gerade als hoax forwarden wuerde
> entspricht meinem Netzliteraturbegriff:
> 
> "Netzliteratur ist künstlerische Umcodierung von Vernetzungscode,
> sei dies Maschinen-, Protokoll-, Betriebssystems-, Software-,
> Browser-, Darstellungs-, Sprach-, Erzähl-, Kontext-, Sozial-,
> oder Kulturcode."

Prinzipiell stimme ich Dir sehr zu - und ich kenne Deine Definition ja schon
aus dem Böhler/Suter-Buch. 

Allerdings stellt sich für mich die Frage, ob "Vernetzungscode" im
allgemeinsten oder nur im speziellen technischen Sinne gemeint ist. Trifft
ersteres zu, so könnte man auch analog übermittelte Formen von Literatur als
"Netzliteratur" definieren, also z.B. literarische Briefe (von Horaz bis
Pynchon), poetische Salons und Performances (von Harsdörffer über Rahel von
Varnhagen bis zur Poetry Slams), Briefromane (einschließlich Goethes
Werther), Mail Art; ja, genau genommen wäre jede Literatur "Netzliteratur",
da sie - als sprachliche Kommunikation - eine Strecke zwischen Sender und
Empfänger über ein Medium zurücklegt und damit Sender und Empfänger
vernetzt. Dein Kriterium, um es absichtlich verkürzt zu zitieren, der
"künstlerischen Umcodierung von [...] Darstellungs-, Sprach-, Erzähl-,
Kontext-, Sozial-, oder Kulturcode" ist ohnehin nicht bloß eine Definition
von Netzliteratur, sondern schlechthin von aller Literatur und Kunst.

Die Unterscheidung zwischen direkter und entfernter Kommunikation
("local area network" und "wide area network") schließlich kann heute nur
noch eine willkürlich festgelegte sein, da seit der Telegraphie
Ungleichzeitigkeit von Senden und Empfang kein Differenzkriterium mehr ist.

Wir könnten "Netzliteratur" empirisch definieren als Literatur, die sich in
ihrem Code - nach den von Dir formulierten Kriterien - auf
Kommunikationsnetze bezieht, die

1. größere Entfernungen überbrücken als die maximale physische Distanz
zwischen zwei Sprechern.

2. im _selben_ Medium eine gleichberechtigte Zwei-Wege-Kommunikation
erlauben und zwischen Sender und Empfänger keine technische Ungleichheit
installieren. (Womit wir den Buchdruck als Kommunikationsnetz ausschließen
können.)

Eine Philologie der Netzliteratur müßte sich also Kommunikationstechniken
wie Rauchzeichen, Morsefunk, Postsystem, Telegraphie, Rohrpost, Telefon,
Telex, Fax und Internet annehmen; in der Tat müßte ihre geschichtlicher
Horizont Antike, Mittelalter und Frühneuzeit einschließen, und "klassische"
Briefliteratur müßte in ihr zentral berücksichtigt werden.

Dennoch sind wir uns ja einig, daß digitale Netze einen entscheidenden
Paradigmenwechsel in der Netzliteratur bedeuten, weil in ihnen der Begriff
des "Vernetzungscodes" viel weitreichender und brisanter ist: Die gesamte
Struktur des Internets ist, wie Lawrence Lessig und andere immer wieder
betonen, codiert; Code (Text) ist also nicht nur, was Übertragen wird,
sondern auch - in Form von programmierten Dämonen, Netzwerkprotokollen und
Router-Firmware - das, was selbst überträgt und den übertragenen Text
manipuliert und generiert. Man müßte also "Netzliteratur" (eigentlich:
"Telekommunikationsnetzliteratur") unterscheiden von "Computernetzliteratur"
und die letztere als Spezialfall der ersteren definieren.

Florian

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