Florian Cramer on 11 Feb 2001 16:57:03 -0000


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[rohrpost] Gegen Medientheorie (Three Minutes of Theory)


[Es folgt meine Drei-Minuten-Instant-Theorie für den Rohrpost-Jahresempfang.
Ich bitte zu entschuldigen, daß der Text mangels Zeit für ausführlichere
Begründungen apodiktisch geraten ist. -FC]


Gegen Medientheorie

für Three Minutes of Theory, Rohrpost-Jahresempfang, 7.2.200


1. Ein Medium ist eine mittlere Instanz zwischen Sender und Empfänger. 
   Computer können Zeichen nicht nur transportieren, sondern auch generieren
   und interpretieren. Sie sind deshalb nicht nur Medien, sondern
   universelle Zeichenmaschinen.

2. Wir brauchen daher keine Medientheorie, sondern eine Semiotik des
   Netzcomputers.

3. Wenn von ,,den Medien`` die Rede ist, sind meistens die ,,neuen Medien``
   gemeint. Der Computer unterscheidet sich von allen anderen neuen Medien
   dadurch, daß er eine universelle Zeichenmaschine ist, und schließlich
   dadurch, daß er seine Zeichen textuell codiert.

4. Wir brauchen daher keine Medientheorie, sondern eine text- und
   zahlentheoretisch geschulte Semiotik des Computers.

5. Eine formale Definition von Text: Text ist eine endliche Menge diskreter
   Zeichen, die einem Alphabet, also einer anderen Menge diskreter Zeichen
   entnommen sind.

6. Digitale Zeichen sind Systemzustände von Prozessoren und Speichern. Das
   Argument, sie konstituierten keinen Text, sondern seien bloß
   ,,Schaltungen``, greift zu kurz. Die Systemzustände eines Computers
   sind ebenso textuell wie zum Beispiel Flaggenzeichen, und sie können
   ohne Informationsverlust in alphanumerischen Text codiert und in
   Systemzustände rückcodiert werden.

7. Weil eine von Kracauer und McLuhan an Film und Fernsehen entwickelte
   ,,Medientheorie`` einfach auf den Computer übertragen wurde, hatten
   Begriffe wie ,,Virtualität``, ,,Nonlinearität`` und ,,Interaktivität``
   irreführende Konjunktur. Digitaler Code ist nicht manipulierbarer,
   nonlinearer oder ,,virtueller`` als jeder andere Text.

8. Im Gegenteil, die digitale Codierung macht Bild- und Tondaten so
   rhetorisch und mathematisch manipulierbar, wie es jeder Text immer schon
   war.

9. Es ist die besondere poetische Qualität des digitalen Texts, maschinell
   ausführbar zu sein, sich selbst replizieren und modifizieren zu können. 
   Die Theorie des Netzcomputers sollte dies, und auch technische Störungen
   der Codierung, intertextuell lesen können.


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