Boris Ewenstein on Wed, 29 May 2002 15:04:06 +0200 (CEST)


[Date Prev] [Date Next] [Thread Prev] [Thread Next] [Date Index] [Thread Index]

Re: [rohrpost] "Empire" - Kritik


Holgers Position macht Sinn und ist ein interessantes 'Riposte' an die
Empire Kritik aus 'der Zeit'.

Allerdings finde ich die Porno/ Literatur; Empire/ Gesellschaftskritik
Analogie stark uebertrieben.

Das wuerde sich deutlicher herausstellen, wenn wir auf der Liste mehr ueber
die Ideen in Empire diskutieren wuerden, als von Anfang an das Buch auf
einer uebergeordneteren Ebene zu kritisieren, die implizit ausdrueckt 'Was
da drin steht hab ich eh gecheckt; darum gehts gar nicht mehr'.

[einen Schritt zurueck tretend]
Was das Buch ganz gut macht, ist folgende Anschauungen zu popularisieren
(ja, es erreicht auch die in der 'Zeit' benannte "jeunesse doree" und die in
einer vorigen Kritik angesprochenen "Kaffeekraenzchen" und Lesezirkel):
Was fuer Implikationen hat die trans-nationale Zirkulation von Kultur,
Kapital und Produktionsmitteln?
Unter welchen Bedingungen fuehrt diese zu einem Empire, unter welchen
Bedingungen fuehrt sie zu einem counter-Empire?
Wie funktioniert Imperialismus, der nicht als Kolonialisierung und
traditionelle Ausweitung von Nationalstaaten verstanden werden kann?
Wie tritt man politisch einem solchen de-zentralisierten Imperialismus
entgegen?
Welche Diskurse kann man entwickeln und anwenden, um einen
neo-liberal-kapitalistischen Weltmarkt nicht ausschliesslich als
endgueltigen und natuerlichen, historischen 'Telos' zu begreifen?
Und: Wer oder was ist Teil der widerstaendischen "Multitude", die Hardt und
Negri als Element eines moeglichen counter-Empires skizzieren?

Sicherlich nicht nur die "Proletarier aller Laender", sondern auch die
buergerlichen Studenten, Kaffeehausliteraten und Armchair-Intellektuellen,
die dabei sind Hardt und Negris Thesen zu promoten und von der "echten"
Linken schoen dafuer gedisst werden.

Boris




----- Original Message -----
From: "holger schulze" <schulze@udk-berlin.de>
To: "rohrpost" <rohrpost@mikrolisten.de>
Sent: Wednesday, May 29, 2002 2:00 PM
Subject: Re: [rohrpost] "Empire" - Kritik


> dazu dreierlei :
>
>
> 1. es hat mich schon seit mitte der 90er jahre irritiert wie plötzlich
> wieder immer mehr leute ganz ohne scheu, ohne peinlich zu wirken,
> wieder von _kapitalismus_ sprechen konnten. ein wort, das zwischen
> 85 und 95 kaum mehr unironisch auszusprechen war, sondern seinem
> sprecher eher als ein zeugnis von geistiger verwirrung und
> absurdem sektierertum ausgelegt wurde.
>
>
> 2. ich teile die diagnose von jörg lau - halte dies aber nicht unbedingt
> für ein argument _gegen_ empire. es spricht sogar eher _für_ dessen
> wirkung & bedeutung.
>
> gerade weil empire einen kursierenden jargon, eine nur
> halbverstandene und vage rezipierte terminologie, einen
> satz von quellen und denkfiguren zusammenfasst (der vergleich
> mit _anti-oedipe_ ist treffend) und zu einem rhetorisch
> beeindruckend lesbaren, wenn auch eher rhapsodisch als
> logisch verstehbaren text zusammenfügt, schafft es einen
> referenzpunkt, den viele versprengte rebellionswütige seit
> mitte der 90er gesucht haben.
>
> empire ist von vorneherein - rhetorisch und theorie-marktmäßig -
> als _das_ fehlende buch konzipiert. als die theoriewichsvorlage,
> das revolutionsmanifest, die messianische schrift. dass sie dies
> inhaltlich nur in selbstreferenz auf ein bestehendes theorie-
> kontinuum argumentativ stützen kann, ist nicht ungewöhnlich,
> sondern üblich. dies ändert nichts an wirkung und bedeutung
> von empire, sondern stärkt diese, wirkt als theorieverstärker
> und große revolutionserzählung, die all das zusammenfasst, was
> latent schon länger kursiert.
>
> jörg laus kritik in der zeit folgt einem muster nach dem noch alle
> rhetorischen manifestschriften (und welches manifest wäre nicht
> rhetorisch?) abgewiesen wurden.
>
> wirksam waren diese dennoch. bedeutung haben sie bis heute.
>
>
> 3.
>
> >Empire
> >verhält sich zu ernsthafter Gesellschaftskritik und Politikwissenschaft
> >"wie Pornografie zu Literatur".
>
> dies scheint mir vollkommen korrekt. aber auch hier gilt :
> eben weil es eher pornografie als literatur ist, wird es wirkung
> haben. im gegenwärtigen umfeld der theoriediskussionen und
> des symposions-zirkus auf internationaler ebene geschieht eine verstärkung
> der reize automatisch - nicht anders als in anderen märkten der
> internationalen unterhaltungsindustrie.
>
> empires bedeutung liegt genau darin :
>
> ein rhetorischer theorie-porno zu sein, der eine stimmung
> aufheizen hilft. dass seine dennoch bestehenden argumentativen stärken
> darin untergehen, ist bedauerlich - aber ebenso nicht ungewöhnlich.
> historisch gesehen ist es eher der normale preis einer schnellen,
> weitreichenden wirkung.
>
> war die historische bedeutung einer theorieschrift jemals
> abhängig von ihrer theoretischen redlichkeit oder gar
> überzeugungskraft?
>
> empire hat eine historische bedeutung.
> und die ist jetzt schon spürbar.
>
>
>
>
>
>
>
>
>
>
>
>
>
>
>
>
>
>
>  dr.holger schulze
>  soundXchange
>  universität der künste berlin
>  postfach 120544
>  d-10595 berlin
>
>  http://new.editthispage.com
>  http://www.udk-berlin.de/soundXchange
>
>
>
>
>
>
>
>
> -------------------------------------------------------
> rohrpost - deutschsprachige Liste fuer Medien- und Netzkultur
> Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost
http://post.openoffice.de/pipermail/rohrpost/
> Ent/Subskribieren:
http://post.openoffice.de/cgi-bin/mailman/listinfo/rohrpost/

-------------------------------------------------------
rohrpost - deutschsprachige Liste fuer Medien- und Netzkultur
Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost http://post.openoffice.de/pipermail/rohrpost/
Ent/Subskribieren: http://post.openoffice.de/cgi-bin/mailman/listinfo/rohrpost/