Tilman Baumgaertel on Tue, 6 Aug 2002 12:55:55 +0200 (CEST)


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Reiseerzählungen 

Die Renaissance der Virtual Reality im Computerspiel 

Von Konrad Lischka 

Sich kräuselndes Wasser, ein Regenschauer, selbst ein Sandsturm ist in der
Welt von Morrowind vor allem ein ästhetischer Genuss. Um sich an diesen
eigentlich so gewöhnlichen Dingen zu erfreuen, werden Menschen jetzt ihre
Computer für viel Geld aufrüsten. Denn das neue Spiel stellt höchste
technische Ansprüche. Selten zuvor war der Gegensatz zwischen hochmoderner
Technik und antiquiertem Inhalt so groß. Unmodern und zugleich enorm
faszinierend ist Morrowind, weil alles darin die Bild gewordene Idee
Virtueller Realität ist, die man aus den neunziger Jahren des vergangenen
Jahrhunderts kennt.

450 Milliarden Variationen des Spielcharakters sind in Morrowind
theoretisch möglich, fast 300 000 Objekte existieren in der sich über
Zehntausende von Quadratkilometern erstreckenden Spielwelt. Morrowind
beschwört noch einmal die Idee der Flucht in einen Raum jenseits, irgendwo
parallel zu unserer Welt. 500 Stunden sollen die Spieler laut Projektleiter
Todd Howard mit - oder besser in - Morrowind verbringen, wenn sie alle von
den Entwicklern angelegten Geschichten durchspielen. Die Bäume, Flüsse und
Hügel dieser Welt sollen den Reiz ihre physischen Vorbilder so sehr
übertreffen, dass allein schon ihr Anblick den Spieler fesselt: "Ich hoffe,
dass jede Gegend die Spieler zwei Minuten still stehen lässt", sagt der
künstlerische Leiter Matt Carofano.

Dieses Streben, einen neuen, perfekten Raum zu schaffen, leugnet heute viel
wirkungsmächtigere Ideen und Technologien. Die sind darauf aus, den
bestehenden Raum zu transformieren und zu erweitern. Der Medientheoretiker
Lev Manovich stellte vor kurzem fest, dass das Jahrzehnt des Virtuellen mit
den 1990er Jahren zu Ende gegangen sei. Nun könnte die Dekade des
"physischen Raumes, angefüllt mit elektronischer und visueller Information"
beginnen. Die Verwandlung unserer Lebensumwelt in einen Datenraum hat
bereits begonnen: Neue Informationen werden zum Beispiel über
Gesichtserkennungsprogramme oder Verkehrsleitsysteme aus bestehenden Räumen
gezogen, ohne dass die sich in ihm bewegenden Menschen es bemerken. Diese
Entwicklungen werden heute unter Schlagworten wie "location based gaming"
oder "augemented reality" verhandelt und bereits als Videoüberwachung oder
"global positioning system" (GPS) praktiziert. Das bedeutet zum Beispiel,
dass man sich Informationen zu Restaurants in der Straße, in der man sich
zufällig gerade befindet, auf's Mobiltelefon schicken lassen kann - die
Daten werden hier auf wenige hundert Meter genau segmentiert, der physische
Raum mit Informationen angereichert.

Die Kunst hat dieses Verschmelzen des realen Raumes mit elektronischer
Datenerfassung schon längst verarbeitet. Das italienische Künstlerduo
0100101110101101.org fand Anfang dieses Jahres mit dem Projekt Vopos
angemessene Bilder für die von Manovich und vielen Unternehmen erwartete
Zeitenwende zum Datenraum. Vopos visualisiert die Bewegungen der Künstler.
Beide tragen ständig GPS-Transmitter mit sich, die über ein Mobiltelefon
die jeweiligen Koordinaten an einen Computer schicken. Der verzeichnet die
Standorte auf Landkarten, die dann jedermann im Internet betrachten kann.
So wird das Informationspotential in dem uns heute schon ständig umgebenden
Datenrauschen sichtbar.

Angesichts dieser Entwicklung erscheinen Spiele wie Morrowind oder das
ebenfalls kürzlich erschiene Neverwinter Nights antiquiert. Und doch reizen
sie - geht man von den Verkaufszahlen aus - erstaunlich viele Menschen mit
dem Versprechen der Existenz in einem Virtual-Reality-Raum - und mit ihrer
klassischen narriven Form.  Morrowind erzählt eine Reise in Episoden. Der
Spieler trifft auf einem Schiff in einer Hafenstadt des Kontinent
Vvardenfell ein. Auf kaiserlichen Befehl wurde er aus einem Gefängnis
entlassen, allerdings ohne zu wissen warum. Von da an muss er sich das
Land, dessen und seine Geschichte, letztendlich auch die eigene Identität
erreisen. Die Episoden seines Weges bestimmt der Spieler allein. Erst nach
zwanzig oder mehr Stunden Spielzeit offenbart sich ihm der eigentliche Plot
des Spiels, doch selbst dann muss dieser nicht verfolgt werden. Es reicht
völlig aus, in der Welt von Morrowind zu leben und sie sich Wegstrecke für
Wegstrecke zu erschließen.

Die Spieler beklagen sich verblüffenderweise nicht über den langen
Spannungsbogen des Plot. Es geht in Morrowind weniger um Spannung als um
das Erfahren einer Welt. Ähnlich in Neverwinter Nights: Im Gegensatz zu
Vorläufern haben die Designer hier auf eine Herde von parallel spielbaren
Charakteren verzichtet. Im Mittelpunkt steht allein der Reisende.

Das erinnert an die Reiseerzählungen der Renaissance, vor allem an die
Beschreibungen der Neuen Welt wie Richard Hakluyt The Principal
Navigations. Beispielhaft für episodisches Erzählen ist John Smiths A True
Relation von 1608, worin die Siedler zunächst einen Ort für ein Dorf
suchen, dann mit Indianern kämpfen, dann weiterziehen, dann mit Krankheiten
kämpfen, dann von Indianern gefangen werden - und so weiter. Die Texte
erreichen durch diese episodische Struktur ihr eigentliches Ziel: Sie
machen den fremden Raum langsam erfahrbar, ja sie ermöglichen es dem Leser,
den Raum Stück für Stück unter seine Kontrolle zu bringen. Die Dramaturgie
scheint oft dem Hauptanliegen untergeordnet, den Zuschauer an möglichst
viele Orte zu führen und ihn diese ausgiebig betrachten zu lassen.

Diesem Muster folgt auch der Virtual-Reality-Roman schlechthin, Tolkiens
Herr der Ringe. Die eigentliche Dramaturgie des Werks kann man nicht so
sehr im Text, sondern viel besser auf der dazugehörenden Landkarte
nachvollziehen. Die Tagesmärsche, Bootsfahrten und nächtlichen Ritte der
Protagonisten fügen sich zur virtuellen Welt im Kopf des Lesers zusammen.

Auch bei Morrowind und Neverwinter Nights kann der Spieler die Reisen
seines Spielcharakters auf einer Karte nachvollziehen. Die liegt bei beiden
Spielen auf ganz gewöhnlichem Papier gedruckt bei. Hier wird die
Kontinuität des Topos trotz des neuen Mediums deutlich: Das individuelle
Spielen ist die Aufführung der kartographischen Notation, ihr Ergebnis die
Welt im Kopf des Spielers.

Das ist der große Vorteil der virtuellen Realität, wie sie in den neunziger
Jahren so populär war: Sie lässt sich in bekannten Mustern erzählen, weil
sie bekannte Bedürfnisse befriedigt. Mit welchen klassischen Erzählungen
aber ließe sich "augemented reality" beschreiben? Deren Anwendungen
verwischen das Kategoriesystem von innen und außen, virtuell und real in
beängstigender Weise. Ein Beispiel: Das Unternehmen Silicon Graphics - im
vergangenen Jahrhundert vor allem wegen seiner Virtual-Reality-Maschinen
bekannt - bietet unter dem Namen "visual area networking" eine Technologie
an, die Folgendes leistet: Ein Soldat betrachtet auf einem tragbaren
Computer ein hochaufgelöstes, fotorealistisches, dreidimensionales Bild der
feindlichen Truppen, die wenige Meter entfernt jenseits eines Hügelkammes
lagern. Die Daten für die Bilder hat eine Drohne gesammelt, errechnet
wurden sie weit entfernt von einem Onyx-Hochleistungsrechner irgendwo im
Hinterland, übermittelt hat sie ein Satellit.

Die "augemented reality" ist somit das Gegenteil der "virtual reality". In
Hakluyts The Principal Navigations, Tolkiens Der Herr der Ringe oder
Morrowind wird ein Raum im Sinne des Historikers Michel de Certeaus in
konkrete Orte verwandelt. Der Leser - beziehungsweise Spieler - entdeckt
den Raum, schafft so seine eigene Erzählung von ihm und kolonialisiert ihn
durch Zu- und Festschreibung der gschaffenen Strukturen zum Ort. Die
Technologien der "augemented reality" hingegen verwandeln fest eingeordnete
Orte durch Anreicherung oder Extraktion von Informationen zurück in Räume.

Das ist beängstigend, und diese Angst ist wohl ein Grund für den Erfolg der
Welten von Morrowind und Neverwinter Nights. Spiele wie Majestic, die mit
dem Konzept der "augemented reality" arbeiteten, waren kommerzielle
Misserfolge. Sehr erfolgreich sind hingegen technisch hochmoderne Spiele,
wenn sie zu Rückzugsräumen vor den Anforderungen der technischen Avantgarde
an unser Weltbild werden.

Es sind zweifellos faszinierende kleine Welten, die eine narrative
Architektur ähnlich der von Themenparks aufweisen, fast vollkommen den
Wünschen ihrer Bespieler entsprechend geformt. Die Designer beider Spiele
haben ihre Aufgabe verstanden und den Spielern dieselben Werkzeuge zum
Weltenbau gegeben, die sie selbst benutzten. Die Spieler sind jetzt in
Morrowind angehalten, ihre eigenen Inseln und Kontinente vor der Küste des
Kontinent Vvardenfell zu schaffen - und über das Internet mit anderen zu
teilen. Es ist kein Zufall, dass das auffälligste Novum bei Morrowind das
Ende ist: Mit dem Plot hört die eigentliche Erzählung des Spiels nicht auf.
Der Spielcharakter kehrt danach vielmehr in die Spielwelt zurück, die der
Spieler dann weiterhin erreisen, entdecken, in Orte verwandeln kann. Ein
schönes Ende.

 

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Copyright © Frankfurter Rundschau 2002
Dokument erstellt am 05.08.2002 um 21:06:15 Uhr
Erscheinungsdatum 06.08.2002
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