Florian Cramer on Mon, 7 Feb 2000 15:17:25 +0100 (CET) |
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[rohrpost] Literatur im Internet [1/2] |
(Anm.: Ich möchte hier gerne ein Manuskript zur Diskussion stellen, den ich im Sommer '99 im Berliner Goethe-Institut vorgetragen und später im Jahresblatt des Verbands deutscher literarischer Gesellschaften publiziert habe. Der Text ist für ein literarisch interessiertes Publikum ohne besondere Computer- oder Netzkenntnisse geschrieben worden. Dies ist die zur Zeit aktuelle Bearbeitungsstufe des Manuskripts. Eine (besser lesbare) PDF-Version des Manuskripts gibt es hier: <http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/aufsaetze/netzliteratur/alg-literatur_im_internet.pdf> ...und eine HTML-Version hier: <http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/aufsaetze/netzliteratur/alg-literatur_im_internet.html> FC) ++++++++++++ Literatur im Internet Florian Cramer 1.12.1999 Inhalt Prämissen 1 Ist das Internet ein literarisches Medium? 1.1 Das Netz als Literatur 1.2 Literatur im Netz 2 Welche Auswirkungen haben Computer und Internet auf die Literatur und den Literaturbetrieb? 2.1 Internet als Distributionskanal und Selbstverlag 2.1.1 Vanity Press 2.1.2 Kommerzielle Publikation 2.2 Internet als Schreibplattform 2.2.1 Null 2.2.2 Trace 2.3 Internet als Textdatenbank 3 Gibt es formal avancierte Netzdichtung? 3.1 Geschichte 3.1.1 Vorläufer 3.1.2 Französische Tradition: Oulipo 3.1.3 Deutschsprachige Tradition: Konkrete Poesie 3.1.4 Anglo-amerikanische Tradition: Postmoderne und ,,Language Poetry`` 3.1.5 Kleiner Exkurs zum ,,Hypertext`` 3.1.6 Netzdichtung 3.1.7 Computerdichtung 3.2 ASCII Art 4 Resümé Literatur Prämissen 1923 veröffentlicht der russische Konstruktivist El Lissitzky ein Manifest Topographie der Typographie zur Zukunft der Buchkunst. Sein Schluß lautet: ,,Der gedruckte Bogen, die Unendlichkeit der Bücher, muß überwunden werden. DIE ELEKTRO-BIBLIOTHEK``. [Lis23] So visionär Lissitzkys ,,Elektro-Bibliothek`` die Datennetze zu antizipieren scheint, sie bleibt Utopie. Zwar wird seit mittlerweile einem halben Jahrzehnt das Internet, vor allem das World Wide Web, als Massenmedium genutzt. Daß der elektronische Hypertext das Ende der Bücher bedeute, wie es 1992 der amerikanische Schriftsteller Robert Coover im New York Times Book Review schrieb [Coo92], hat sich jedoch nicht bewahrheitet. Im Gegenteil, Bücher sind heute Schrittmacher des E-Commerce - des elektronischen Versandhandels - mit seinem Aushängeschild amazon.com http://www.amazon.com. Hier ist das World Wide Web nicht universelle Elektro-Bibliothek, sondern Bibliothekskatalog. Viel weniger erfolgreich als die auf Druckwerke verweisenden Kataloge ist elektronische Dichtung im Internet, zumal solche, die sich experimentell um netzspezifische Textformen bemüht. Das Publikumsinteresse an solchen Texten ist abgekühlt, ehemalige Großprojekte wie der Internet-Literaturpreis der ZEIT und die Softmoderne-Symposien wurden stillschweigend eingestellt oder in stark verkleinertem Rahmen fortgeführt. Parallel zeigen Netzanthologien wie Thomas Hettches Null (siehe 2.2.1) oder die lyrikline http://www.lyrikline.org der Literaturwerkstatt Berlin einen Trend der Professionalisierung an, unter dessen Vorzeichen zunehmend konventionell vom Papier aufs Netz übertragene Textformen und Editionsmethoden mit ,,Netzliteratur`` identifiziert werden, ,,Dichtung im Netz`` also zur Buch und Dichterlesung flankierenden Präsentation wird. Dieser Trend wird nicht zuletzt dadurch befördert, daß Internet-Literatur, die mit ihrem Medium experimentiert, sich zwar einen vitalen, über E-Mail, Nachrichtenforen, Websites und Symposien vernetzten Diskurs geschaffen hat, als Netzdichtung deklarierte Einzelwerke jedoch zuverlässig dagegen abfallen und, mit raren Ausnahmen, uninteressant sind für ein Publikum außerhalb dieses Diskurses.2 Wieso also über Literatur im Internet schreiben? Selbst dort, wo das Internet nur als Bücherkatalog und Distributionsmedium genutzt wird, verändern sich Rezeption, Vermittlung und somit die Produktionsbedingungen von Literatur. Zu untersuchen bleibt, ob das Internet für Literatur mehr sein kann, als nur Katalog und Vertriebskanal. Die Fragen lauten somit: 1. Ist das Internet ein literarisches Medium? 2. Welche Auswirkungen haben Computer und Internet auf die Literatur und den Literaturbetrieb? 3. Gibt es, trotz nachlassenden Interesses, eine formal avancierte Netzdichtung? 1 Ist das Internet ein literarisches Medium? 1.1 Das Netz als Literatur Indem das Internet Telegraph und Textspeicher zugleich ist und Algorithmen ausführt, vereint es die Funktionen von Buch, Bibliothek, Salon und poetischer Maschine. ,,Literatur im Internet`` kann deshalb das Internet insgesamt meinen, als Gebilde aus Buchstaben- und Zahlencodes in Raum und Zeit, als WELTROMAN IN ECHTZEIT. Das Internet ist das erste neue Medium des zwanzigsten Jahrhunderts, das auf Schrift basiert. Seine vermeintliche Multimedialität beruht auf alphanumerischen Codes und schriftlichen Befehlssequenzen. Das heißt: Auch ein Bild oder ein Ton wird im Computer als Textcode gespeichert und übertragen, und nur herkömmlicher Text ist im Internet wirklich recherchierbar. So leicht es ist, mit einer Suchmaschine das Wort ,,Hand`` im gesamten World Wide Web oder in einer Datenbank aufzuspüren, so unmöglich ist es - ohne künstliche Intelligenz - hingegen, digitalisierte Fotos nach abgebildeten Händen zu durchsuchen. Liest man das ganze Internet als Literatur, das heißt als Buchstabenwesen, so richtet sich die Frage seiner Poetizität, nach Dichtung im Netz, zuerst an den Leser. Ihm obliegt es, den Textfluß zu verdichten. Die Montage vorgefundenen Sprachmaterials - etwa nach dem Muster futuristischer und dadaistischer Lyrik, von Joyce und Döblin - erfordert technisch nur noch ein ,,Cut'n'paste``, ein paar Mausklicks zwischen Web-Browser und Textverarbeitungsprogramm, und sie kann sogar durch Algorithmen automatisiert werden. 1.2 Literatur im Netz Der umgekehrte Weg, herkömmliche Dichtung ins Internet zu stellen oder als Dichtung deklarierte Texte im Netz zu lesen, ist problematischer. Unhandlichkeit des Computers, grobauflösende Bildschirmdarstellung, Gerätelärm, stockende Netzverbindungen, Programmabstürze und Telefonkosten schaffen eine feindliche Umgebung fürs konzentrierte Lesen schwieriger Texte. Rechnet man Zugangsgebühren und die Anschaffungskosten der Hardware hinzu, so kostet Netzliteratur einen durchschnittlichen Leser wahrscheinlich mehr Geld als eine gute Taschenbuch-Bibliothek. Daß Inhalte im Netz kostenlos seien, nur weil die Computer- und Telekommunikationsindustrie und nicht die Urheber daran verdienen, ist ein verbreiteter Irrglauben. Texte im Internet, zumal Dichtungen, müssen gegenüber dem Buchdruck also einen Mehrwert bieten, um diese Handicaps auszugleichen. Ohne einen solchen Mehrwert gäbe es keinen einleuchtenden Grund, einen Text im Internet statt auf Papier zu veröffentlichen. Wann also lohnt die Online-Publikation? Vier Gründe liegen auf der Hand: 1. Der Text soll schnell und global möglichst vielen Lesern verfügbar sein - wie zum Beispiel das Manifest des ,,UNA-Bombers`` Theodore Kaczinsky -, oder er erscheint nicht auf Papier, weil der Autor keinen Verleger hat, der Verlag sich keinen Buchdruck leisten kann oder ein Buchveröffentlichung finanziell nicht lohnt. Dies betrifft das Internet als Distributionskanal von Literatur. 2. Der Text entsteht, öffentlich oder nicht-öffentlich, in einem kollaborativen, vernetzten Schreibprozeß. Dies betrifft das Internet als Schreibplattform. 3. Der Text soll per Suchmaschine recherchierbar sein. Dies betrifft das Internet als literarische Datenbank. 4. Der Text benötigt eine Software-Benutzeroberfläche oder wird von nach programmierten Regeln automatisch erzeugt. Nur hier entsteht, optional in Verbindung mit den ersten drei Funktionen, genuine Computerliteratur. 2 Welche Auswirkungen haben Computer und Internet auf die Literatur und den Literaturbetrieb? Distributionskanal, Schreibplattform und Datenbank zu sein, sind die zur Zeit wichtigsten Funktionen des Internet im zeitgenössischen Literaturbetrieb. Oft werden Texte als ,,Netzliteratur`` deklariert, die nur diese drei Funktionen nutzen oder bloß eine von ihnen. 2.1 Internet als Distributionskanal und Selbstverlag 2.1.1 Vanity Press Die Mehrzahl der Texte, die sich im Internet als literarisch ausweisen, nutzen das Netz als schnellen und preiswerten Distributionskanal. Das bekannteste Beispiel ist Rainald Goetz' Tagebuch Abfall für alle, das 1998 kontinuierlich im World Wide Web erschien und durch die Geschwindigkeit seiner Aktualisierung den Schreibakt als Performance inszenierte. Politische Aktivisten publizieren Texte im World Wide Web, deren Druckfassungen zensiert oder gerichtlich gestoppt wurden, in Deutschland z.B. die linksextreme Zeitschrift radikal. Die elektronische Publikation könnte aber auch zur Regel in Schwellenländern mit guter Netzinfrastruktur werden, zum Beispiel in Osteuropa, Asien und Südamerika. Das Internet wird so zum Selbstverlag, je nach Sichtweise zur weltgrößten ,,vanity press`` oder zum Samizdat-Verteiler. In seinen Literarischen Spaziergängen im Internet weist Reinhard Kaiser darauf hin, daß allein das öffentliche Forum rec.arts.poetry mit tausenden Gedichten pro Monat die herausragende Bedeutung des Netzes als Salon und Schreibstätte belegt [Kai96]. Neben Selbstdarstellung hat der elektronische Selbstverlag zwei weitere Funktionen: 1. Die Bildung von Interessengemeinschaften von Schreibern und Lesern. Besonders erfolgreich ist sie im populärsten Genre der Netzliteratur, dem pornographischen: Im weltweiten Diskussionforum alt.sex.stories und seinen Untergruppen wie alt.sex.stories.gay behauptet sich ein eigener Literaturbetrieb mit anonymen Autoren, Kritikern, die Erzählungen systematisch rezensieren, und Lesern, die Geschichten nachfragen. Dieses Forum operiert nicht nur als Distributionskanal, sondern auch als Datenbank, weil es eine formelhafte Notation für die in den Geschichten zentralen Sexualpraktiken entwickelt hat, durch die Leser ihre bevorzugten Subgenres gezielt herausfiltern können.3 2. Texte erscheinen im Netz, um einen Verleger zu finden. Ein frühes deutschsprachiges Beispiel ist der Roman Die Quotenmaschine von Norman Ohler, der ursprünglich im Internet entstand und 1996 im Zuge der damaligen Netzeuphorie von einem Großverlag als ,,erster Internet-Roman`` gedruckt und vermarktet wurde. So viele Gründe es gibt, einen Text in den elektronischen Selbstverlag zu geben, als Distributionsmedium für herkömmliche Literatur ist das Internet nur ein Notbehelf. Ein so publizierter Text verliert nicht, sondern gewinnt Lesbarkeit, wenn er nach Empfang ausgedruckt und auf Papier gelesen wird, wie es mit den meisten Textdateien nach wie vor geschieht. Da viele Klassiker der Weltliteratur ursprünglich in Selbst- oder Kleinstverlagen erschienen sind, könnte es einmal Netzpremieren vom Rang eines Ulysses oder einer Lolita geben, doch wäre das Netz für solche Literatur nur Zwischenstation und Durchlauferhitzer. 2.1.2 Kommerzielle Publikation Datennetze können auch zur kommerziellen Distribution von Literatur verwendet werden. Das Stichwort hierfür heißt ,,publishing on demand``. Ein ,,publishing on demand``-Verlag liefert keine Auflagen mehr in Buchhandel aus, sondern druckt jedes Buch lediglich einzeln auf Bestellung mit einem speziellen Laserdrucker. Die Technik dafür existiert schon seit Jahren, wird aber jetzt erst (z.B. von libri http://www.bod.de) systematisch vermarktet. Rentabel ist dieses Verfahren bei Kleinauflagen. Es entlastet die Verlage von der Lagerhaltung und erlaubt, auch vergriffene Bücher unbegrenzt im Sortiment zu halten. Mittelfristig könnten sich die Laserdruckmaschinen von den Verlagen in die Buchhandlungen verlagern, langfristig sogar in die Haushalte der Leser. Es spricht viel dafür, daß ,,publishing on demand`` zur Regel wird für Lyrikbände und Dissertationen. Der Leser bemerkt bei dieser Form der elektronischen Publikation keinen Unterschied zum herkömmlichen Buch; ,,publishing on demand``-Bücher werden wie bisher über den Buchhandel bestellt und sehen aus wie gewöhnliche Taschenbücher. 2.2 Internet als Schreibplattform Auch wenn das Internet sich Lesern zunächst als vanity press darstellt und deshalb außerhalb des etablierten Literaturbetriebs zu stehen scheint, verändert es die Arbeitsweisen hinter den Kulissen. Autoren, Übersetzer und Lektoren können über E-Mail Textkorrekturen austauschen, ohne daß Manuskripte wiederholt abgeschrieben werden müssen. (So bestürzend banal dieser Hinweis im Jahr 1999 auch klingen mag, im deutschen Literaturbetrieb muß das analphabetische Faxgerät seine Dominanz über literatere Technologien noch einbüßen.) Software-Programmierer und Autoren technischer Handbücher bedienen sich bereits differenzierterer Techniken wie dem Concurrent Versioning System (CVS), einer frei erhältlichen Internet-Software, die einen asynchronen Versions- und Variantenabgleich von kollektiv geschriebenem Programmcode, aber auch von Textmanuskripten erlaubt [Ced99]. Darüberhinaus memoriert es alle Revisionen eines Dokuments und kann jede Bearbeitungsstufe wiederherstellen. Solch ein System bietet praktische Vorzüge für die Verlags- und Redaktionsarbeit, ermöglicht aber auch kollektive Schreibexperimente im Stil der surrealistischen cadavres exquises. 2.2.1 Null Ein aktuelles Beispiel eines solchen Schreibexperiments im deutschsprachigen Raum ist die ,,Online-Anthologie`` Null http://www.dumontverlag.de/null/, die Thomas Hettche für den DuMont-Verlag betreut. Jüngere deutsche Autoren, unter ihnen Helmut Krausser, Steffen Kopetzky, Thomas Meinecke, Alban Nicolai Herbst und John von Dueffel, schreiben auf Null tagebuchartige Notizen, die auf der Startseite des Projekts zu einem Sternhimmel ikonifiziert sind. Texte, die auf andere Texte antworten, erzeugen Sternbilder, ohne allerdings dabei die bildtextliche Komplexität barock-kombinatorischer Coelum-Gedichte, von Mallarmés Coup de dés oder den sprichwörtlichen Konstellationen der konkreten Poesie im Sinn zu haben. Die Prosaminiaturen, die hier entstehen, sind auf Internet und Computer als Lesemedien nicht angewiesen, ihre Endfassungen werden folgerichtig in einer gedruckten Anthologie erscheinen. Ähnlich wie bei Rainald Goetz' Abfall ist der ,,Mehrwert`` gegenüber papierner Publizistik, der den Netzauftritt von Null begründet, das Prozessuale, das Ausstellen der Schreibperformance. 2.2.2 Trace Als ,,Online Writing Community`` bezeichnet sich das Projekt Trace http://trace.ntu.ac.uk. Es ist an einer englischen Universität angesiedelt, vergibt Stipendien an Online-Autoren und veranstaltet Literaturwettbewerbe, zuletzt in Zusammenarbeit mit Robert Coover [tra]. So verkörpert Trace eine angloamerikanische Tradition der Hypertext-Dichtung oder ,,Hyperfiction``, die in 3.1.4 genauer skizziert werden soll. 2.3 Internet als Textdatenbank Die eingangs gestellte Frage, welche Auswirkungen Computer und Internet auf die Literatur und den Literaturbetrieb haben, ist noch nicht ganz beantwortet. Vom Internet als Distributions- und Schreibmedium war bereits die Rede, als Literaturdatenbank gewinnt das Internet jedoch nicht minder Bedeutung. Hiervon profitieren zunächst Kritiker und Philologen. Bibliothekskataloge, die vom Zettelkasten in die Computernetze gewandert sind, vereinfachen zwar Titel- und Stichwortsuchen, vergegenwärtigen ihren Benutzern aber penetrant, wieviel befriedigender es wäre, wenn nicht nur die Titel der Bücher im Computer abgerufen werden könnten, sondern - wie von El Lissitzky imaginiert - auch ihr vollständiger Inhalt. Nach internationalem Urheberrecht kann jedes Buch frei kopiert und öffentlich in Datennetzen gestellt werden, dessen Autor vor mehr als siebzig Jahren gestorben ist. Sinnvoll wäre solch eine Volltextarchivierung aber auch für neu erscheinende Bücher, die primär Sachwissen vermitteln und keinen wirtschaftlichen Gewinn abwerfen wie zum Beispiel akademische Arbeiten. Im Zeitalter sinkender Universitäts- und Bibliotheksbudgets könnte die Kostenexplosion akademischer Literatur bald erzwingen, daß die gesamte Wissenschaftspublizistik vom Buch auf Datennetze umgestellt wird und akademische Titel nur noch dann im Druck erscheinen, wenn sie über ihr Fachpublikum hinaus Leser ansprechen. Wandern traditionelle Publikationszweige ins Internet, so wird dies sehr bald ein radikales Neudenken von Urheberrecht und intellektuellem Eigentum nötig machen, das zumindest für Fachliteratur das Ende des heutigen, an den Erfordernissen des Buchdrucks ausgerichteten Urheberrechts bedeuten könnte. Modellhaft für eine radikale Neudefinition von Urheberrecht und intellektuellem Eigentum steht das Copyleft Freier Software wie GNU/Linux [Fre]. Es reflektiert die Erfahrungen einer Netzkultur, die der von Schriftstellern und Medienkünstlern zwei Jahrzehnte Erfahrung voraushat und deren Protagonisten - Unix-Hacker - die eigentliche Avantgarde des Schreibens in Computernetzen bilden.4 Von der Rechtsproblematik abgesehen wäre die Digitalisierung der Bibliotheken eine kulturelle Jahrhundertaufgabe. Würden ganze Schriftgattungen auf elektronisches Publizieren umgestellt, so müßte sich grundlegend auch die Form ändern, in der Texte am Computer erfaßt werden. Textverarbeitungsprogramme wie Microsoft Word und Word Perfect imitieren die Funktion elektrischer Schreibmaschinen und erzeugen optisch strukturierte Dokumente zum Ausdrucken, statt Auskunft über die interne logische Strukturierung einer Datei zu geben, also z.B. Zitate als Zitate und Kapitelüberschriften als Kapitelüberschriften mit allgemeingültigen Codes kenntlich zu machen. Logisch strukturierte Textformate auf der Basis der Codierungsstandards SGML und XML sind heute schon Norm für die Erfassung kritischer elektronischer Werkausgaben und technischer Dokumentationen. Welche Auswirkungen hätte dies auf belletristische Gegenwartsliteratur? Wohl geringe; daß Textverarbeitungsprogramme der freien Typographie Vorrang gegenüber der Datenbank-Tauglichkeit von Texten einräumen, kommt gerade den Bedürfnissen von Lyrikern entgegen. Allerdings weist der russisch-amerikanische Medientheoretiker Lev Manovich in einem Aufsatz Database as Symbolic Form darauf hin, daß Datenbank- Strukturen charakteristisch für postmoderne Kunstwerke seien, zum Beispiel für die Filme von Peter Greenaway [Man98]; und, so ließe sich ergänzen, für serielle Musik und Romane wie Georges Perecs Das Leben - Gebrauchsanweisung oder Italo Calvinos Unsichtbare Städte. Daß sich ein Datenbank-artiger Erzähltext ins elektronische Medium übertragen läßt, demonstriert überzeugend der ELEX, eine intermediale CD-ROM-Fassung des Lexikonromans des österreichischen Schriftstellers Andreas Okopenko [Lib98]. Dieser 1970 erstmals erschienene Lexikonroman einer sentimentalen Reise zum Exporteurstreffen in Druden, so der vollständige Titel, erzählt keine Geschichte von Anfang bis Ende, sondern gliedert sich alphabetisch in kurze Kapitel mit Überschriften wie ,,bunte Stühle``, ,,Hundstage`` und ,,Ultraviolett``, die sich durch zahlreiche Querverweise miteinander verknüpfen.5 Im ELEX mutiert Okopenkos Roman zu einem elektronischen Nachschlagewerk, das neben dem alphabetischen auch einen topographischen Zugriff auf den Text erlaubt und von einer computergenerierten Lexikon-Sonate des Komponisten Karlheinz Essl komplementiert wird. Leider kann ELEX nicht im Internet gelesen werden und ist nur auf Macintosh-Computern lauffähig. Wer im Netz interessante elektronische Dichtung sucht, stellt fest, daß dies keine Ausnahme ist, sondern oft die Regel. -- Florian Cramer, PGP public key ID 6440BA05 <http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/index.cgi> please PGP-encrypt private mail -------------------------------------------------- # rohrpost -- http://www.mikro.org/rohrpost # unabhaengige deutschsprachige Mailingliste fuer Medien- und Netzkultur # kommerzielle Verwertung nur mit Erlaubnis der AutorInnen # Info: majordomo@mikrolisten.de; msg: info rohrpost # Entsubstkribieren: majordomo@mikrolisten.de # msg: unsubscribe rohrpost ihre@adres.se # Kontakt: owner-rohrpost@mikrolisten.de