Volker Grassmuck on 6 Dec 2000 15:46:10 -0000


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[rohrpost] Text zur mikro.lounge "Digitale Diaspora"


Text zur mikro.lounge #29: "Digitale Diaspora"

                          am Mittwoch, 6. Dezember 2000
                          Beginn 20 Uhr
                          im WMF, Ziegelstr. 23, Berlin-Mitte

http://mikro.org/Events/20001206.html



Digitale Diaspora

Ausgangspunkt ist die Vorstellung, daß ein Individuum eine besondere Beziehung zu
einem bestimmten Ort hat. Bestimmt wird dieser Ort namens “Heimat” oder “Vaterland”
im 19. Jahrhundert durch das ius sanguinis. Nicht Kultur, sondern Biologie entschieden
über die Zugehörigkeit zur Nation. Dieser erinnerte oder imaginierte Ort, wo die Ahnen
begraben liegen, der Ort der “Muttersprache” und schließlich der “Kultur” steht in
einem Spannungsverhältnis zum aktuellen Aufenthaltsort dieses Individuums. Grund
für den Ortswechsel kann eine Verschleppung oder Anwerbung sein, der politische
oder wirtschaftliche Druck im Ausgangsland oder Sog im Zielland oder er kann
familienbiografisch ein oder mehrere Generationen zurückliegen.

Neben den aktuellen Aufenthaltsort in einer von der eigenen verschiedenen
Umgebungskultur und die “Heimat” tritt in jüngster Zeit ein dritter Ort in einem
medialen Raum. Insbesondere das Internet ist für die auf der ganzen Welt verteilten
Mitglieder einer Kultur- und Sprachgruppe zur Eckkneipe geworden, in der man sich
nach der Arbeit auf ein Schwätzchen trifft. Neben solchen zwar global verteilten, aber
tendenziell auf Bewahrung eriner partikularen Kultur gerichteten Gemeinschaften bilden
sich auch generische globale Identitäten heraus. Nintendo-Kids, Unixer, Star Trek- oder
F1-Fans haben mehr gemein mit Mitgliedern der gleichen jugendlichen, professionellen
oder Fan-Kulturen anderswo auf der Welt, als mit anderen Generationen oder
Kultursegmenten im “eigenen” Land. Aus der Fülle der heutigen möglichen
Verortungen ist schließlich noch eine Art generische gesamt-diasporische Kultur in
einem Land zu nennen, die sich gegen die umgebende Mehrheitskultur absetzt, ohne
sich nach innen auszudifferenzieren, und die sich unter dem appropriierten pejorativen
Label "Kanaken" sammelt.

“Diaspora” wird als Arbeitshypothese für diese mikro.lounge gefaßt als soziale Form
von transnationalen Gemeinschaften mit ihren grenzüberschreitenden persönlichen,
kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Netzwerken. Individuell nimmt sie die Form
des “doppelten Bewußtseins” (W.E.B. Du Bois) an, zugleich hier und dort zu sein, das
in alle Sprach-, Gender-, Abstammungs-, Bildungs-, Arbeits-, Staatsbürger- usw. -Rollen
hineinwirkt, die man so spielt. Als kulturelle Konstruktion und kultureller Ausdruck ist
sie contested territory. Als solche hat sie ihre Möglichkeitsbedingung in Medien.

Um sich dem brisanten und politisch aufgeladenen Fragenkomplex zu nähern, legt die
29. mikro.lounge den Fokus auf etwas, das trefflich mit dem Begriff "Achse" benannt
ist, wie er vom Forschungsprojekt "Axial Writing. Transnational Literary/Media
Cultures and Cultural Policy" an der University of Swansea verwendet wird. Dort heißt
es:

    “'Axes' are lines of communication, trade and travel which connect pairs of
    significant sites within the multicentred networks of transnational
    communities: e.g. LondonDelhi, or BerlinIstanbul. 'Axial writing' [womit nicht
    nur Literatur, sondern auch Film und andere kulturelle Produktionen gemeint
    sind] thematises past and present traffic along axes; it also forms part of that
    traffic itself.” (Swansea University, Wales, 1998 - 2001)

Auf der 29. mikro.lounge sollen an den Beispielen der türkischen, indonesischen und
chinesischen Communities in Almanya Netzwerke von transnationaler kultureller
Produktion und Konsumption beleuchtet werden, die in den nationalen Öffentlichkeiten
an beiden Enden der Achse durchaus unsichtbar bleiben können.


Klassische Diaspora
William Safran definiert Diaspora als

    “expatriate minority communities“ (a) that are dispersed from an original centre
    to at least two periphal places; (2) that maintain a memory, vision, or myth
    about their original homeland; (3) that believe they are not fully accepted by
    their host country; (4) that see the ancestral home as a place of eventual
    return, when the time is right; (5) that are committed to the maintenance and
    restoration of this homeland; and (6) of which the group`s conciousness and
    solidarity are importantly defined by this continuing relationship with the
    homeland (Safran 1991, 83-84; zit. n. Kaya 1997).

‘Diaspora’ -- gr. ‘Zerstreuung’ -- markiert nach traditionellem Verständnis den Zustand
und den Ort einer Vertreibung von einem Ursprung, dem Heiligen Land. In diesem Sinne
wird es in bezug auf die in der ganzen Welt verstreuten jüdischen und armenischen,
aber auch griechischen und palästinesischen Enklaven verwendet.

Manche Wörterbücher definieren Diaspora als Gebiet, in dem die Mitglieder einer
Kultur gegenüber einer anderen in der Minderheit sind. Ein solches Gebiet befindet sich
in einer Umwelt, die sich bemüht, angesichts der “Anderen” ihre eigenen “Leitwerte” zu
finden, die Kriterien für Ausschluß und Einschluß zu bestimmen (derzeit sollen si in
Almanya von biologisch-rassischen auf funktionale Qualitätsmerkmale umgeschaltet
werden) und ihre eigene “Identität” vis á vis den “Anderen” immer wieder neu
abzustecken.

Ausgrenzung nimmt viele Formen an. Der schärfste Schnitt liegt zwischen denen, die
eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten und denen, denen ein Daseinsrecht auf dem
betreffenden Territorium verweigert wird. Weltweit - so schätzt die UNO - leben rund
50 Millionen Menschen ohne gültige Aufenthaltserlaubnis. Sie heißen „Menschen
ohne Papiere", „Irreguläre", „Clandestine", „Heimliche" oder im Behördenjargon
einfach: „Illegale".

    „Ihr sollt wissen, dass kein Mensch illegal ist. Das ist ein Widerspruch in sich.
    Menschen können schön sein oder noch schöner. Sie können gerecht sein
    oder ungerecht. Aber illegal? Wie kann ein Mensch illegal sein?" (Elie Wiesel)

Arbeitsmigration hat es immer gegeben. Die Völkerwanderung, die Religionskriege im
16. und 17. Jahrhundert und ihre verheerenden ökonomischen Folgen brachten
Millionen in Bewegung. Saskia Sassens Analyse zeigt, daß im Ancien Régime
“Emigration für arme Staaten bedrohlicher war als Immigration, von der alle profitierten.”
(Sassen 1997: 27)

Industrialisierung, Verstädterung, Hungersnöte, Veränderungen im Schiffsfernverkehr
und staatlicher Imperialismus gehören zu den Elementen der folgenden
Kolonisierungsmigration, die Sassen am deutschen Beispiel skizziert:

    “Nach der Niederlage der Türken im 17. Jahrhundert wurden deutsche Siedler
    für das südöstliche Europa angeworben; zwischen 1748 und 1786 wanderten
    60.000 Kolonisten auf offizielle Einladung hin nach Ungarn, gefolgt von
    180.000 privaten Siedlern; von 1763 bis 1800 kamen etwa 37.000 Deutsche in
    die russischen Wolgagebiete und ans Schwarze Meer, rund 300.000 folgten der
    Aufforderung Friedrich des Großen und zogen nach Osten, um die
    preußischen Gebiete zu besiedeln. Deutsche warben aber auch selbst
    ausländische Kolonisten an, vor allem Holländer mit Erfahrung in der
    Trockenlegung von Mooren und Sümpfen. In Übersee wurde Nordamerika zu
    einem wichtigen Ziel für deutsche Kolonisten. Ende des 18. Jahrhunderts
    hatten sich 125.000 Deutsche in Nordamerika niedergelassen, vor allem in
    Philadelphia; 17.000 deutsche Söldner, die im amerikanischen
    Unabhängigkeitskrieg gekämpft hatten, blieben ebenfalls. Amerika, dessen
    ‘wilde Eingeborene’ kein durchsetzungsfähiges Recht auf ihren eigenen Boden
    hatten, wurde für alle Europäer zum Inbegriff einer kolonialisierbaren
    Gesellschaft, zur ‘natürlichen’ Heimat für Flüchtlinge und
    unternehmungslustige Wirtschaftsmigranten.” (Sassen 1997: 35)

Die neuen Dampfschiffe und die Expansion der Kolonialreiche ließ im 19. Jahrhundert
die überseeische Migration zu ungeheueren Ausmaßen anschwellen.

    “Über 50 Millionen Menschen verließen im 19. Jahrhundert und bis zum Ersten
    Weltkrieg Europa: Um 1840 emigrierten jährlich zwischen 200.000 und 300.000,
    zwischen 1840 und 1900 geht man von insgesamt 26 Millionen und von 1900
    bis 1914 von weiteren 24 Millionen aus. 37 Millionen (72%) gingen nach
    Nordamerika, 11 Millionen (21%) nach Südamerika und 3,5 Millionen nach
    Australien und Neuseeland.” (Sassen 1997: 58)

Die deutsche Wanderungsbilanz kehrt sich 1893 um. Das “freie” Land ging zur Neige.
Die USA befanden sich in einer wirtschaftlichen Depression, während die deutsche
Wirtschaft boomte. Seither ist Deutschland kein Emigrationsland mehr.

    “Die gewaltige Zahl der Flüchtlinge, Vertriebenen und der Rückkehrer aus den
    Kolonien bildete nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 50er Jahre hinein ein
    dringend benötigtes zusätzliches Arbeitskräftereservoir für die im
    Wiederaufbau befindliche euroäische Wirtschaft. [...] Bemerkenswert ist dabei
    vor allem die Bundesrepublik, die zwischen 1945 und 1988 14 Millionen
    Menschen aufgenommen hat. Das Ende des Kolonialismus führte zur
    Rückwanderung ‘weißer’ Siedler und Kolonialbeamter in die jeweiligen
    Kolonialmächte; dazu hatten mehrere europäische Staaten den Bewohnern
    ihrer früheren Kolonien die Staatsbürgerschaft verliehen oder einen ähnlichen
    Status eingeräumt, der die Einwanderung erleichterte.” (Sassen 1997: 115)

So entstanden etwa eine algerische Diaspora  in Frankreich, eine indonesische und
surinamische in Holland, indische, pakististanische und karibische in Großbritannien
aber auch solche, die ihre Ursprünge vor allem in der Wirtschafts- und Arbeitspolitik
der Nachkriegszeit haben, wie die türkische Diaspora in der Bundesrepublik. Die
Zunahme diasporischer Situationen geht mit der verstärken Globalisierung einher.

Die ‘alte’ Diaspora ist orientiert auf eine mögliche Rückkehr. Der ‘Tunnel’ nach Hause
bleibt offen. Zuweilen buchstäblich. Die Helden in dem Roman “Die Schwester des
tschechischen Schriftstellers Jáchym Topol entdecken auf der Flucht vor der Polizei in
einem Berliner UBahnSchacht eine neue Welt:

    "Plötzlich, irgendwelche Hände packen uns und ziehen uns in eine Nische. Die
    Bullen flitzen vorbei ... vor mir steht'n kleines Männchen, schwarz wie'n Schuh.
    In der Nase hat er'n Stoßzahn, der leuchtet regelrecht hier in der Dunkelheit.
    Ungara, Bulgara, Polischa, Rumana ... fragt mich das Männchen aus. Beinah
    richtig. Das liegt an meiner Visage. Ei äm Tscheckoslowakia! Und juh? frage
    ich, Angolander, Kongomann, Ugandhi ... hm? Nain! Nain! Ich Kanak! Wir
    gehen nach hinten. Mir fallen die Augen aus dem Kopf. Da is'n Schacht oder
    was, ‘ne ganze Menge von diesen kleinen Flinken wieselt da rum. Sie graben,
    und die Erde fahren sie mit Schubkarren weg. Mein Kanakenfreund erklärt:
    Tuleri, Kippa! Essen hier große, große bik! Kanakland keine! Er zeigt uns die
    internationale Geste für Klauen. Wir pflichten ihm bei. Tunelerie! Nach
    Kanakland! Aha, Kopic verstand. Die graben sich nach Hause durch. Globe,
    sag' ich. Globe, durch, graben durch? Ja, nach Globe, sagt der Kanake erfreut.
    Essen Konzerv und Dus Supermarkt Doitschland nach Kanakland für Kindern
    und Fraulen ... Na ja, sagt Kopic, Kanaken. Wir sind auch Kanaken ... Er hat
    recht. Wir sind alle Kanaken." (Topol 1998, zit. nach Inke Arns 1999)



Neue Diaspora
In jüngster Zeit haben vor allem die cultural studies den Begriff auf alle Formen von
transnationaler Migration ausgeweitet. Die Mittel und die Motive, nicht dort zu leben,
wo man geboren ist, haben sich vervielfältigt, und damit hat auch die
Wahrscheinlichkeit, in eine diasporische Kultur hineingeboren zu werden,
zugenommen. Die Zweite und Dritte Generation, die in einer kreolischen Sprache und
synkretistischen Kultur lebt, hat The best of both worlds und The worst of both worlds -
- und dazu alles aus einer medialen Zwischenwelt, die weder hier noch da ist, und
dennoch erlaubt, ein Gefühl einer kollektiven Identität zu unterhalten.

Safrans idealer Typus der “zentrierten” Diaspora, die sich an einer fortgesetzten
Verbindung zu ihrem Ursprung und einer Teleologie der “Rückkehr” orientiert, ist, so
der Istanbuler Soziologe Ayhan Kaya, nicht länger anwendbar  auf die jüngsten
Diaspora-Erfahrungen wie die afrikanisch/amerikanische, die karibisch/britische,
südasiatisch/britische, türkisch/deutsche und die algerisch/französische. Kaya
bezeichnet diese Geschichten der Deplazierung mit dem Cliffordschen Begriff der

    “Quasi-Diaspora [which] is not so much oriented to roots in a specific place
    and a desire for return as around an ability to recreate a culture in diverse
    locations. Such a state of diaspora falls outside the strict definition of
    diaspora“ (Clifford, 1994: 306; zit. n. Kaya 1997).


Medien
Alle jungen Netzwerkmedien -- die Telegrafie, das Radio und heute das Internet --
erweckten jeweils euphorische Hoffnungen auf Völkerverständigung, Frieden und einen
globalen Dialog in einer großen Familie. Alle Menschen werden Brüder, sprechen
dieselbe Sprache (z.B. Esperanto) und kehren ins vorbabelsche Paradies der Eintracht
zurück. Kurz vor dem Start des Internet schrieben zwei, die ihn ermöglicht haben:

    "In a few years, men will be able to communicate more effectively through a
    machine than face to face. [...] But now the move is on to interconnect the
    separate communities and thereby transform them into, let us call it, a
    supercommunity. [...] What will on-line interactive communities be like? In
    most fields they will consist of geographically separated members, sometimes
    grouped in small clusters and sometimes working individually. They will be
    communities not of common location, but of common interest. [...] All of these
    [users and their information processing and storage facilities] will be
    interconnected by telecommunications channels. The whole will constitute a
    labile network of networks -- ever-changing in both content and configuration.
    [...] life will be happier for the on-line individual because the people with whom
    one interacts most strongly will be selected more by commonality of interests
    and goals than by accidents of proximity." (Licklider & Taylor, April 1968)

Ältere diasporische Kulturen mit geringer medialer Kopplung gelten als besonders
konservativ. So haben sich in der Ende des 19. Jahrhunderts ausgewanderten
japanischen Diaspora in Brasilien Sprache und Alltagskultur erhalten, die in Japan
heute als altertümlich angesehen werden. Führt die Vielfalt und Dichte der heutigen
Kanäle zu einer Synchronisation?

Das scheint zumindest in den priviligierten Kreisen der Fall zu sein, was man am
Vergleich der kulturellen Symbolik der polnischen Studenten in Polen und der
polnischen Studenten, die seit langem im Ausland (Deutschland) leben und studieren,
beobachten kann. Eine (leider nicht repräsentative) Umfrage ergab 1998 eine fast völlige
Übereinstimmung der Kultursymbolikkataloge in beiden Gruppen, während es noch
1995 sichtbare Unterschiede gab. Die Nutzung des Internet scheint hierbei eine
relevante Rolle gespielt zu haben.

Auch, wenn wir im Internet sind, sind wir an einem "Ort", der sich  für alle lebenden
Menschen auf dem Globus  von den Orten unterscheidet, die wir gewohnt sind.
“Digitale Diaspora” ist auch die Verlockung hinein in den Cyberspace und die
Vertreibung aus dem prädigitalen Dasein. Das digitale “Über-All” überlappt auf
vielfache Weise mit lokalen Communities, die sich im “Kulturraum Internet” (WZB)
global vernetzen können.

    The modern “communicative circuity has enabled dispersed populations to
    converse, interact and even symbolise significant elements of their social and
    cultural lives.“ (Gilroy, 1994: 211; zit. n. Kaya 1997)

Medien bieten diasporischen Kulturen einen gemeinsamen Raum, der der Hegemonie
sowohl der Umgebungskultur wie eines repressiven “heimischen” Nationalstaates
weitgehend entzogen ist. Ein Dritter Ort, nicht hier noch da, sondern im Dazwischen.

Dieser Zwischenraum bietet Chancen für "Marginalisierte". Kaya schreibt in seiner
Dissertation über türkische HipHop-Jugendliche in Kreuzberg:

    “Globalisation [...] empowers the minorities against the hegemony of nation-
    states, and breaks up the conventional power relations between majority and
    minority. [...] Transnational connections with homeland, other members of
    diaspora in various geographies, and/or with a world-political force (such as
    Islam) break the binary relation of minority communities with majority societies
    as well as giving added weight to claims against an oppressive national
    hegemony. Through the agency of these connections, diasporic subjects have
    the chance to create a home away frome the homeland, a home which is
    sourrounded by rhythms, figures  and images of the homeland provided by
    TV, video cassettes, tapes, radio, and by the local network they developed in
    time.” (Kaya 1997)

Dieser optimistischen Einschätzung zum Trotz sind es gerade die Marginalisierten, die
die Reihen der Globalisierungsgegner anschwellen lassen, da sie spüren, daß sie auch
gegenüber einem globalisierten Kapitalismus wieder auf der Verliererseite stehen
werden.


Politik
Als sich die StudentInnen in Indonesien anschickten, Suhartos Regime zu stürzen, war
die Nachrichtenlage hier in Europa schlecht. Am ausführlichsten noch berichteten
holländische Sender -- in holländischer Sprache, versteht sich, der alten
Kolonialsprache, der vielleicht noch die Generation unserer Eltern mächtig ist.
Telefonieren war schwierig. Da ist zum einen der Zeitunterschied, zum anderen war da
die Ungewissheit, ob die Leitung nicht abgehört wird, und schließlich war das Wissen
der besorgt in Indonesien Angerufenen -- nicht zuletzt wegen der Zensur -- lokal
begrenzt. “Wie, Unruhen? Hier bei uns ist alles ruhig”. In dieser Situation gründeten
StudentInnen, die aus Indonesien zum Studium nach Deutschland gekommen waren,
Mailingslisten, die schnellen Informationsaustausch erlaubten. Diese Mailinglisten
existieren nach wie vor und dienen auch der politischen Beobachtung der Lage in
Indonesien.

In einem anderen Sinne meint “Digitale Diaspora” ein informationelles Dasein, daß in
ein Außen verlegt wird, ohne daß notwendig auch die Sprecher ihren Ort verlassen. So
sendete die serbische Radiostation B92, im eigenen Land von den Machthabern nicht
mehr gelitten, von Amsterdam aus in's Internet. Ähnlich die Zeitschrift Radikal, die
ebenfalls in Holland ein Exil fand, oder die chinesische Diaspora. Doch auch in
Deutschland verbotene NaziSites befinden sich in der informationellen digitalen
Diaspora. Das Medium ist axiologisch völlig neutral.

Als politischer Zufluchtsort bietet der Cyberspace wichtige neue Möglichkeiten, doch
wie verhält es sich mit den Vorstellungen vom kulturellen Schmelztiegel?

    “Interviewer: I keep coming back to the WELL, but there are people there from
    every European country, as well as a lot of South Americans and Asians. You
    really don't get that sense of separateness at all. And in fact, one of the
    appealing points about the WELL  one of the principal reasons why many
    join  is precisely because they can drop in and they can enter this realm of
    globalism that may be inaccessible in their ‘real’ life. [...]

    Benedict Anderson: And speaking of language, the kids that I know who use
    the Net a lot are all inside their own languages. The Indonesian students on
    the Net are all in Indonesian, the Thais are all in Thai. They don't seem to want
    to communicate with anybody else.

    Interviewer: Really? That's surprising . . . .

    BA: I mean there are a few who are into ecology or the sciences or feminism,
    but I would say that the vast majority are quite sophisticated kids who have
    no interest in communicating with anyone outside their world.

    I have a very interesting Argentine friend who is doing an experiment that I
    suggested to him.  Spanish is, of course, the language throughout Latin
    America. So the question is, how do you create an Argentine network? And he
    said that the network is basically moronic: exchanging Argentine recipes,
    gossip about what is going on in Argentina. But what makes it Argentine?
    Does the language give it away somehow? In his experiment, he's trying to
    very gradually ratchet up the percentage of words that are Uruguayan slang,
    or Chilean slang, or Ecuadorian slang and drop them in see what happens. At
    what point do people begin to freak out, when they finally discover a
    nonArgentine infiltrator in their midst?  (Benedict Anderson, 1996)

Die postnationalen Identitäten bestehen Seite an Seite mit diasporischem
Nationalismus. Das Verhältnis von Mehrheits- und Minderheitskultur am Ursprungsort
wirkt trotz aller postnationalistischer Tendenzen in der Diaspora fort. Die Mehrheit
verspürt, mit alten Medien gut versorgt, wenig Drang zum Digitalen. Minderheiten
dagegen, zumal unterdrückten, bleibt gar nichts anderes übrig, als jede sich bietende
Gelegenheit zu nutzen, sich Kanäle zu erschließen. So ist die türkische Majorität in
Deutschland nur mäßig digital präsent. Das meistgenutzte türkische Portal in
Deutschland ist Vaybee.com. Die größte türkische Tageszeitung, die deutsche Ausgabe
von Hürriyet, hat noch keine Webseiten, ebensowenig der liberale Türkische Bund
Berlin Brandenburg (TBB), der für seine Vermittlerrolle zwischen türkischer und
deutscher Öffentlichkeit bekannt ist, wie übrigens auch die Sozialdemokraten in der
Türkei. “Hier fehlt Wissen, hier fehlt Kapital”, meint der  Journalist Ali Yildirim,
ehemaliger Internet-Spezialist beim TBB. Vertretungen von Minderheiten in der Türkei
dagegen, etwa kurdische oder alevitische Vereine, sind europaweit gut vertreten -- das
Netz dient der Organisation im politischen Exil. Kleine Medien geben Marginalisierten
eine -- häufig die einzige -- Chance sich zu vernetzen. In Umkehrung eines Buchtitels
von Bob McChesney könnte man sagen: “Rich Democracy, Poor Media.”


Digitale Spaltung

    “Will 'to be on line' be a priviledge or a right?"
	(Licklider & Taylor 1968)

Tatsächlich sind die Zugangschancen sehr ungleich verteilt. So finden sich in den
Ländern Westeuropas, Nordamerikas und in Japan mehr als 500 Telefonanschlüsse pro
1000 EinwohnerInnen, in der Türkei unter 500, in Indonesien etwa 25 und in vielen
Ländern Afrikas weniger als 5. Und selbst durch die hoch vernetzten Länder zieht sich
eine digitale Spaltung. Der Zugang zum Heiligen Land der Digitalität hängt ab von
Bildung, Zugang zu öffentlichen Institutionen und dem Geld für einen Rechner daheim.
Umso mehr gilt für diasporische Kulturen, daß der Zugang zum Netz eine Bildungsfrage
ist. Yildirim: “Migranten mit Internetzugang können meistens gut Deutsch und nutzen
auch deutsche Pages.” Nun ist es aber kein Geheimnis, daß die Bildungschancen für
Kinder von MigrantInnen – gerade in Berlin – nicht gut stehen, sogar schlechter
werden. Es ist sicher kein Zufall, daß die Begründer von Vaybee.com alle ein
abgeschlossenes Hochschulstudium haben.

Ganz selbstverständlich, wie nebenbei und ohne daß es im populären Diskurs einmal
thematisiert werden würde, hat sich im neuen Medium ein altes Gefüge installiert: Ein
Gefüge, dessen Definitionsmacht sich auf die Teile der Erde beschränkt, die ohnehin
das Sagen haben -- die hoch industrialisierte sogenannte erste Welt. Denn nur hier
finden sich jene Anwender, die mit ihren Rechnern, Telefonanschlüssen und den
nötigen Kreditkarten den Boom ermöglichen. Der Diskurs der Anschlüsse ist ein
Diskurs der Ausschlüsse.

Eine Zukunft, in der man so einfach an allen politischen Entscheidungen teilnehmen
kann, dass ein Parlament (eine indirekte Demokratie) überflüssig wird und zu einer
direkten Demokratie übergegangen werden kann ist “Stand der Technik“ in der reichen
Welt, das Problem mit der Demokratie haben jedoch meistens die Länder, die auch
technische Defizite haben.  In Polen haben Künstler für die diesjährige Präsidentenwahl
eine virtuelle Kandidatin (Viktoria Cukt) vorgeschlagen.

In diesem Sinne könnte “digitale Diaspora” somit auch die von den Früchten des
gelobten Landes Digitalien Ausgeschlossenen meinen, die andere Seite der Digital
Divide.


(Volker Grassmuck & Claudia Wahjudi mit Input von Piotr Olszówka)



Literatur

Inke Arns, 'Das Jenseits der Oberflächen: Medienkunst vs Medienkultur, oder Wie wir
die Tunnelmetapher lieben lernten', in: Stephen Kovats (Hg.), Media*Revolution,
Campus Verlag, Reihe "edition bauhaus", Band 6, Herbst 1999, inkl. CDROM,
Dokumentation der ostranenie Festivals 1993, 1995, 1997 am Bauhaus Dessau,
http://www.v2.nl/~arns/Texts/Media/medrevd.html

Jáchym Topol, Die Schwester, Berlin 1998

Ayhan Kaya: Constructing Diaspora: Turkish HipHop Youth in Berlin. University of
Warwick, Centre for Research in Ethnic Relations, Warwick 1997

J.C.R. Licklider & Robert W. Taylor. The Computer as a Communication Device, in:
Science and Technology, April 1968

When the Virtual Becomes the Real. A Talk with Benedict Anderson, in: NIRA REVIEW
(The National Institute for Research Advancement), Spring 1996

Saskia Sassen, Migranten, Siedler, Flüchtlinge. Von der Massenauswanderung zur
Festung Europa, Fischer, FfM 1997

Robert McChesney, Rich Media, Poor Democracy,

William Safran, 1991

Elie Wiesel,

Clifford, 1994

Gilroy, 1994



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   http://waste.informatik.hu-berlin.de/Grassmuck

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