Tilman Baumgaertel on 31 Dec 2000 15:53:15 -0000 |
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[rohrpost] Tagebuch eines Start-Up-Gründers |
Hallo! Zum Ende des Start-Up-Pleiten-Jahres noch ein bisschen New-Economy-Bashing. Euch allen ein gutes Neues Jahr, von Eurem Rohrpost-"Host" --------------------SCHNAPP!-------------------- Datum: 27.12.2000 Ressort: Medien Autor: Tilman Baumgärtel INTERNET Katzenstreu als Geschäftsidee Meist läuft die Geschichte etwa so: da sind drei bis sechs junge Männer, die kennen sich aus dem Internat, aus dem Betriebswirtschaftstudium oder einfach nur so. Oft haben sie im Nachnamen ein "von". Und vor zwei Jahren haben sie zusammengesessen und geredet, und dann hat plötzlich einer von ihnen gesagt: "Das und das müsste es im Internet geben." Sagen wir mal, Katzenstreu. So was nennt man eine "Geschäftsidee". Und wenn die drei bis sechs jungen Männer anfangen, sich nach Geldgebern umzusehen, nennt man sie "Gründer". Wenn es ihnen gelingt, für die Katzenstreu im Internet Risikokapital aufzutreiben und ein Büro anzumieten (das sich idealerweise in einer Fabriketage in Prenzlauer Berg befindet), heißen sie "erfolgreiche Gründer". Wenn sie es schaffen, ein, zwei Jahre mit ihrer Geschäftsidee durchzukommen, ohne dass ihnen das geliehene Kapital ausgeht, nennt man sie "Visionäre". Und wenn es ihnen gelingt, ihre Firma für bares Geld an ein anderes Unternehmen zu verkaufen, dann sind sie "Genies". Seit Mitte der 90er-Jahre sind in Deutschland eine Reihe von Jungs-Cliquen mit Geschäftsideen wie "Katzenstreu im Internet" reich geworden. Viele waren es nicht. Aber trotzdem berichten sogar "Stern" und "Brigitte" aus dem neu entstandenen Start-up-Milieu. Dort fand man Tischtennisplatten in den Bürolofts, die Angestellten tranken täglich bis zu zehn Tassen Cappuccino auf Kosten der Firma, alle arbeiteten 14 Stunden pro Tag und amüsierten sich dabei noch königlich. Arbeitgeber, die in anderen Branchen als Ausbeuter und Räuberbarone betrachtet würden, galten hier als brillante Vordenker der New Economy. Viel verdienen konnte man nicht, aber alle, die in den Internet-Firmen arbeiteten, bekamen "Stock Options", die sie nach dem Börsengang ihrer Firma reich machen würden. Vielleicht sogar zu Millionären. Danach sieht es Ende 2000 nicht mehr aus. Nach dem tiefen Fall der Nasdaq und des Neuen Marktes sind die Perspektiven der New Economy düster. Viele Junggründer, die sich Anfang des Jahres Hoffnungen auf schnellen Reichtum machten, sind nun froh, wenn ihre Firmen das Jahr 2000 überleben. Am zweiten Weihnachtsfeiertag wurde der "Berliner Zeitung" ein Laptop zugespielt, auf dem das Tagebuch eines Start-up-Gründers gespeichert ist. Wir zitieren einige Eintragungen, die das turbulente Jahr 2000 aus der Perspektive eines Internet-Unternehmers beschreiben. ------------------------------------------------------------------- Aus dem Tagebuch eines Start-up-Gründers Der anonyme Autor der folgenden Tagebucheintragungen ist der Mitgründer des Internet-Unternehmens 12TooYou.de, das im Netz ein "contentbasiertes, nutzwertiges E-Commerce-Portal mit Community-Organizer-Funktionen" anbietet. 3. Januar Das Jahr beginnt gut: Wir haben zum Jahresbeginn 20 neue Mitarbeiter eingestellt, das Team ist motiviert, und der Umzug von der Torstraße in die Kulturbrauerei ist erfolgreich beendet. Statt zwei Zimmern im Hinterhof haben wir jetzt 300 Quadratmeter. Toll! Zur Begrüßung für die Neuen gibt es einen Empfang in unserem Fitnessraum (Sushi, Champagner, Jolt). 12. Februar Vortrag in der Industrie- und Handelskammer. Habe den trägen Old-Economy-Säcken tüchtig eingeheizt: "Nicht die Großen fressen die Kleinen, sondern die Schnellen die Langsamen." Daran hatten die Schlafmützen erst mal ganz schön zu kauen! 10. März Gestern beim "First Tuesday" einen der Ebay-Gründer getroffen, der jetzt einen neuen Start-up aufgemacht hat und mich seinem Business Angel vorstellte. Wir denken über gemeinsame Content-Syndication nach unserem Börsengang nach. Hebe mir seine Papierserviette auf; bringt vielleicht Glück. Später viel Prosecco. 10. April 72 Stunden am Stück durchgearbeitet. Zwischen vier und acht Uhr nachts einige Stunden unter dem Schreibtisch gedöst, dann weitergerackert. Was für ein Flash! Gott sei Dank habe ich eine Zahnbürste im Büro. 14. April Der Nasdaq ist eingebrochen. Betrifft zum Glück den deutschen Markt nicht. 15. April Auch am Neuen Markt sind die die Kurse um 10 Prozent gefallen. Wir bleiben bei unserem Börsengang im Juni, weil wir gut aufgestellt sind und ein starkes Geschäftsmodell haben, das unabhängig von kurzfristigen Marktschwankungen funktioniert. 19. April Börsengang abgesagt. Erkläre dem Team beim Grillen am Freitagabend die Lage. Weise daraufhin, dass die Stock Options beim neuen Börsengang im September erhalten bleiben. Kommt gut an. 25. August Gestern im "Greenwich" Sandra kennen gelernt. Wir reden den ganzen Abend - weil ich versuche, ihr das Geschäftsmodell unserer Firma zu erklären. Sie versteht es nicht. Später vor dem Einschlafen Angstzustände: Habe ich eigentlich unser Geschäftsmodell verstanden? Im Morgengrauen weiß ich wieder, was wir tun. Bei unseren Risikokapitalisten bin ich nicht so sicher. Einer hat mich neulich gefragt, was ein Browser ist. Regen. 28. August Es regnet weiter, und das im August! Wir brauchen neue Ideen, um durch die Krise zu kommen. Bei einem Brainstorming beschließen wir, unser Angebot um einen WAP-Dienst und Realtime-Aktienkurse zu erweitern. Als ich um Mitternacht nach Hause gehe, ist die Hälfte des Teams noch bei der Arbeit. Mein AB ist kaputt. Macht nichts, weil bei mir sowieso niemand mehr anruft. 1. September Seit drei Tagen kann ich mich nicht mehr an meinen Titel erinnern. War es Managing Director? Executive Director? Oder Managing Executive Partner? Ich würde gerne meine Sekretärin fragen. Aber ich habe gar keine Sekretärin. 15. September Börsengang wieder abgesagt. Der Neue Markt fällt und fällt. Am Abend Get-Together mit dem Team (Pizza, Rotwein, Red Bull), um die Lage zu erklären. Komischerweise fragt niemand nach den Stock Options. 16. September Unser Business Angel hat einen Kontakt zu Bertelsmann hergestellt. Wenn die von unserem Geschäftsmodell hören, kaufen sie wahrscheinlich gleich die Firma. 20. September Als ich von der Präsentation bei Bertelsmann zurückkomme, sehe ich, dass jemand das Wort "Betriebsrat" in die Tischtennisplatte eingeritzt hat. Wieso nur? 10. Oktober Heute hat wieder jemand von der IG Medien angerufen, weil er über die Arbeitsbedingungen bei uns reden möchte. Verstehe nicht, was der Mann will. Nichts Neues von Bertelsmann. 15. November Jedes Mal, wenn ich bei Bertelsmann anrufen, werde ich mit der Hotline des Buchclubs verbunden. Ob das was zu bedeuten hat? 17. November Noch immer kein Signal von Bertelsmann. Wir überlegen, mit welchen Partnern wir sonst noch kooperieren können. Auf der Liste stehen die Deutsche Lehrerzeitung, die VDI-Nachrichten und Börse-Online. Gestern hat meine Mutter wieder gefragt, was unsere Firma eigentlich macht. Unsere Aktien kaufen will sie nicht mehr. 18. Dezember Der Neue Markt ist auf dem Jahrestiefststand angekommen. Weihnachtsfeier im Team-Zimmer. (Der Fitnessraum ist an ein Grafikbüro untervermietet.) Es gibt Knoblauchbrot und Dosenbier. Die Stimmung ist gedrückt. Um halb neun gehen die Letzten. 26. Dezember Gestern Nacht der Durchbruch! Wir haben ein vollkommen neues Geschäftsmodell. Im nächsten Jahr werden wir uns auf den SMS-Markt konzentrieren, und Wireless Application Services anbieten. Das wird 2001 das große Ding; ich kann es förmlich riechen! Nicht umsonst hat mich die "Wirtschaftwoche" neulich einen "Visionär des 21. Jahrhunderts" genannt. Ich bin ein Genie! Das nächste Jahr wird unser Jahr! (PS: Nicht vergessen: im Wörterbuch nachschlagen, was "Application" heißt!) Bildunterschrift: So wird man heute Unternehmer: Firma gründen, einen komischen Namen ausdenken, ein Foto an die "Berliner Zeitung" schicken. Auf diesem Weg möchten wir allen Internet-Start-ups danken, die uns in diesem Jahr so reichlich mit dicken Pressemappen versorgt haben. Einige der schönsten Bilder veröffentlichen wir an dieser Stelle. Danke fürs Grinsen, Jungs! Und vielleicht hören wir im nächsten Jahr ja noch mal von einander. Von oben: Getgo. de, Jamba!, YellOut und All-in-green. com. (Nein, wir wissen auch nicht, was diese Firmen eigentlich machen. ) ---------------------------------------------------------------------------- --- http://www.BerlinOnline.de/wissen/berliner_zeitung/archiv/2000/1227/medien/0 074/index.html?keywords=Start-Up&ok=OK%21&match=strict&author=Tilman%20Baumg %E4rtel&ressort=Medien&von=&bis=&mark=start Ein Service von Berliner Zeitung, TIP BerlinMagazin, Berliner Kurier und Berliner Abendblatt. © G+J BerlinOnline GmbH, 31.12.2000 ---------------------------------------------------------- # rohrpost -- deutschsprachige Mailingliste fuer Medien- und Netzkultur # Info: majordomo@mikrolisten.de; msg: info rohrpost # kommerzielle Verwertung nur mit Erlaubnis der AutorInnen # Entsubskribieren: majordomo@mikrolisten.de, msg: unsubscribe rohrpost # Kontakt: owner-rohrpost@mikrolisten.de -- http://www.mikro.org/rohrpost