"Baumgärtel, Dr. Tilman" on Wed, 10 Oct 2001 17:24:32 +0200 (CEST) |
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[rohrpost] Cyberville |
Geschrieben fuer "Medienrezensionen". Gruesse, Tilman Stacy Horn: Cyberville - Clicks, Culture, and the Creation of an Online Town New York: Warner Books 1998, 340 S., ISBN 0-446-51909-X, $ 17.99 Wer einem jungen Menschen erklären will, warum das Internet einmal so eine unglaublich aufregende Sache war, sollte ihm oder ihr diese Publikation geben. Cyberville von Stacy Horn ist wahrscheinlich das beste Buch über die goldenen Jahre der Online-Kommunikation - oder wenigstens das, was die alte Garde der Netznutzer dafür halten mag. Die Möglichkeit, plötzlich mit Menschen, die man nie getroffen hatte, anspruchsvolle Diskussionen zu führen und sich ein Medium zu erobern, dass so avanciert war, dass die meisten Leute noch nie etwas davon gehört hatten, war eine erhebende Angelegenheit. Aber freilich nicht nur das. Es war auch der Anfang vieler schöner Feindschaften, grausiger Flame-Wars und erstaunlicher Begegnungen mit Menschen, die ihr antisoziales Verhalten mühelos in den neu entdeckten Cyberspace übertrugen - wo man sie aber, im Gegensatz zu wirklichen Welt, nicht einfach irgendwo abhängen konnte, sondern ihren Angriffen, Verschwörungstheorien und ihrem Blödsinn hilflos ausgesetzt war. Stacy Horn hat das alles einmal ausführlich aufgeschrieben, und sie schreibt aus wahrlich gut informierter Perspektive: Als Gründerin der New Yorker Mailbox Echo hat sie die Höhe- und Tiefpunkte von Virtual Communities ausführlich studieren und zum Teil sogar am eigenen Leib erfahren können. Echo war seit 1988 das BBS der New Yorker Künstler und Intellektuellen, eine Art East Coast-Antwort auf das kalifornische Idyll der Cyber-Esoteriker und Greatful-Dead-Fans, die sich bei The Well ein Stelldichein gaben. Im Gegensatz zu der von Künstlern für Künstler konzipierten Mailbox The Thing sprach Echo nicht nur die Kunstszene an, sondern versprengte New Yorker Intellektuelle aus den verschiedensten Kulturbereichen. In Cyberville lernen wir eine Reihe von Menschen kennen, die sich und uns nie begegnet wären, wenn es "Echo" nicht gegeben hätte: Miss Outer Boro, Neandergal, Was it good for Jew? und Jane Doe sind genau die Online-Bekanntschaften, die man wahrscheinlich nur Anfang der neunziger Jahre machen konnte, als es für intelligente Menschen noch eine reizvolle Angelegenheit war, sich tage- oder wochenlang via Computer zu Themen wie dem neuesten Film von Martin Scorsese, klitoralen Orgasmen oder einem skandalösen Performance-Künstler auszutauschen. Diese Art von Meinungsäußerung ist inzwischen zum Geschäftsmodell von Firmen wie Dooyoo oder Epinions geworden, aber es war einmal ein aufregender und unkommerzieller Spaß. Und am interessantesten war es freilich, die Grenzen dieses Spaßes auszuloten. Cyberville ist voll von Beispielen für die Höhen und Tiefen, zu denen die Online-Kommunikation von einigermaßen wachen Leuten getrieben werden konnte. Es gibt ausführliche Kapitel über Gestalten wie Mr Happy, der seine neu gefundenen Freunde ausführlich über seinen scheinbar chronischen Durchfall informieren musste, die handelsüblichen Frauenbelästiger (die freilich in Wirklichkeit immer nur falsch verstanden wurden und eigentlich super-nette Kerle waren), oder 'den Nazi' - genau die Typen, die die ungeschriebenen Regeln der frisch gebackenen virtuellen Gemeinschaft auf eine harte Probe stellen. Und natürlich auch über die 'beinharten Diskussionen', bei denen auch der größte 'Nervsack' noch seine basisdemokratischen Verteidiger findet. Stacy Horn beschreibt dieses virtuelle Treiben mit dem abgebrühten Humor, der für New Yorker und die Betreiber solcher Online-Gemeinschaften gleichermaßen typisch ist. Im Gegensatz zu Howard Rheingold, der in seinem Klassiker Virtual Communities [] das Hohelied auf die frühen Jahren der vernetzten Kommunikation sang, ist Horn besonders aufmerksam für die Konfliktpunkte, die sich im regelfreien Raum einer Mailbox entwickeln können. Und die schildert sie mit soviel Gusto, dass man sich manchmal fragt, wie sich dieser verstrittene Haufen samstags im Central Park zum Sport oder montags zum Trinken in einer Kneipe in Manhattan treffen konnte. Ach so, Eheschließungen, Taufen, Selbstmorde und alle anderen Facetten der 'condition humaine' gibt es in Cyberville natürlich auch. Die Echo-Dramen beschreibt Horn so liebevoll und in so farbigen Details, dass sich ihr Buch spannender ließt als viele Romane. Zum Glück hat sie nie etwas von den endlosen Debatten von der Festplatte ihres Computers gelöscht und kann so auf ein gigantisches digitales Archiv des Online-Lebens zurückgreifen, das inzwischen dem Technologiewechsel von Mailboxen auf Internet zum Opfer gefallen ist. Tilman Baumgärtel (Berlin) ------------------------------------------------------- rohrpost - deutschsprachige Liste fuer Medien- und Netzkultur Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost Info: http://www.mikro.org/rohrpost Ent/Subskribieren: http://post.openoffice.de