Oliver Gassner on 6 Jul 2001 20:02:04 -0000


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[rohrpost] Open Content: ein juristischer Computer-Virus



Open Content: ein juristischer Computer-Virus

Florian Cramer aus Berlin über Copyright im digitalen Zeitalter

Im Internet gibt es alles umsonst. Vor allem: Texte und Musik.
Und Filme und Software. Ist das alles legal? Oder gar gut? Womit
verdienen die Menschen, die diese Inhalte geschaffen haben, Geld?
Was geschieht, wenn einfach jemand diese Arbeiten nimmt und für
die eigenen ausgibt? Oder kopiert und verkauft? Gilt das
Urheberrecht? 
Florian Cramer, Literaturwissenschaftler an der Freien
Universität Berlin, gab bei einem Vortrag in der Stadtbücherei
Stuttgart einen Überblick über die Problemfelder des geistigen
Eigentums im Informationszeitalter. Schon das Thema seines
Vortrags war erläuterungsbedürftig: "Open Content". Was ist unter
"Content" zu verstehen und was gar unter "Open"?

Content: Was unterscheidet ein Programm von einem Gedicht?

Es zeigte sich im Vortrag recht schnell, dass eine Abgrenzung
zwischen den Inhalten (Content) z.B. des Internets und Programmen
oder Betriebssystemen nicht einfach ist. Denn wo genau ist die
Grenze zwischen einem als Programmcode - also in Computer-Sprache
- vorliegenden Verfahren (Algorithmus) und der
normal-sprachlichen Beschreibung dieses Verfahrens in einem Text.
Auf das Programm wird in der Regel das Patentrecht angewandt, auf
den Text hingegen das Urheberrecht oder international das
Copyright. Einen Text erwirbt man in Papierform - oder ein Lied
in Form eines Tonträgers - und kann ihn beliebig oft nutzen und
nach Nutzung eventuell auch wieder weiterverkaufen. Als
Bibliothek kann man ein Buch beliebig oft verleihen. Für Software
hingegen werden Lizenzen vergeben. Man erwirbt nicht das
Programm, sondern lediglich eine oft eng gefasste Erlaubnis zu
dessen Nutzung. Verleih oder Wiederverkauf sind oft entweder
unmöglich oder an strenge Auflagen gebunden. Allerdings gehen die
Bestrebungen vieler, gerade sehr innovativer, Firmen dahin, auch
auf die Beschreibung von Verfahren das Patentrecht anzuwenden und
Geld aus der Vergabe von Lizenzen für deren Nutzung einzunehmen.
Die Grenze zwischen Software und Texten, Programmen und Inhalten
(elektrodeutsch: Content) verschwimmt.
Diese Grenzauflösung legt es nahe zu überprüfen, ob nicht
bestimmte Lizenzformen, die für Software taugen, nicht auch für
Inhalte taugen könnten.

Ausgeschlossen: Dateien dürfen nicht ins Antiquariat

Zunächst behandelte Cramer die lizenzrechtlichen und technischen
Einschränkungen, die sozusagen "geschlossene" Nutzung.
Es zeichnen sich Tendenzen ab, die Nutzung von Software oder
digitalen Bildern, Tönen und Filmen auf einzelne Personen oder
einzelne Geräte zu beschränken. Neue Versionen des
Betriebssystems Windows sind nur auf dem Computer, mit dem sie
erworben werden, einsetzbar. Zukünftige Versionen sollen gar
nicht mehr als unbefristete Nutzungs-Lizenz verkauft, sondern
monatsweise gemietet werden können - ähnlich dem Pay-TV a la
"Premiere".
Filme, die auf den neuen DVD-Scheiben gespeichert sind, sind gar
mit einem Regio-Code versehen, der dafür sorgt, dass ein in den
USA gekaufter Film auf europäischen DVD-Abspielgeräten nicht
funktioniert und kopieren kann man die Filme erst recht nicht.
Cramer verglich das bildhaft mit einem in den USA gekauften Buch,
dessen Seiten sich beim Überqueren des Atlantik in Asche und
Rauch auflösen.
Der Wissenschaftler skizzierte auch die Veränderungen, die sich
bei dem Internet-Dienst Napster in den letzen Monaten nach der
Übernahme durch Bertelsmann ergeben haben: Waren früher in der
Musiktauschbörse digitale Popsongs gratis tauschbar, so ist es
heute nur möglich, den Dienst gegen Bezahlung zu abonnieren und
eine Datei zu erhalten, die lediglich auf einem Computer wieder
als Musik anzuhören ist. Ein ‚Brennen' der Lieder auf CD, wie das
früher möglich war, wird zudem durch einen Kopierschutz
verhindert. Ein Zuhörer nannte das Beispiel, dass einige Lizenzen
für elektronische Bücher sogar das laute Vorlesen verbieten. Wer
also aus dem betreffenden E-Book seinen Kindern die ‚Schatzinsel'
vorliest macht sich strafbar. Cramer erläuterte, dass diese
Einschränkungen unter anderem bedeuten, dass das deutsche
Urheber- und Verwertungsrecht durch freie Vereinbarungen
eingeschränkt wird, die zum Teil das amerikanische
Copyright oder noch engere Lizenzen auch für die Nutzung in
Europa in Kraft setzen.

Closed: Wissen unter Ausschluss der Öffentlichkeit

Für Privatleute sind die oben aufgeführten Einschränkungen bei
der Nutzung digitaler Inhalte ja eventuell hinzunehmen. Für
Bibliotheken jedoch bedeuten diese Regelungen und technischen
Maßnahmen, dass sie die entsprechenden Medien oft überhaupt nicht
zur Ausleihe oder auch nur Nutzung in den Räumen der Bibliothek
anbieten können. Die Programme, Texte, Lieder, Filme und Bilder
sind also von einem öffentlichen Zugang ausgeschlossen.

Open: Information wants to be free

Wie nun ist dieses Problem zu lösen? Gerade das Nebeneinander von
Bibliotheken, als offene und freie Nutzungsform von Inhalten, und
den Verlagen, Druckereien und dem Buchhandel zeigen, dass eine
öffentliche Nutzung von Inhalten deren kommerziellen Vertrieb
nicht behindern muss sondern vielmehr sinnvoll ergänzt. Florian
Cramer bezeichnete gerade die Bibliothek als Modell für eine
sinnvolle Regelung von Nutzungsrechten im digitalen Zeitalter.
Und bei der Software zeichnen sich neben den oben skizzierten
Einschränkungen seit dem Ende der 90-er Alternativen ab: Die
sogenannte Open-Source-Bewegung, deren prominentestes Produkt das
kostenfreie Betriebssystem Linux ist, nutzt eine Lizenzform, die
nicht nur die kostenfreie Nutzung von Programmen erlaubt, sondern
auch ermöglicht, dass die Programme modifiziert werden dürfen
oder gar - zu Paketen geschnürt - kommerziell vertrieben werden
können. Das ist, was mit dem Begriff ‚open' gemeint ist: Gratis
verfügbar, frei modifizierbar, mit der Erlaubnis der Weitergabe
auch gegen Gebühr für eine Bearbeitung. Wer aber die Software
einmal erworben hat, der darf sie seinerseits wieder unbeschränkt
weitergeben. 
Der Trick dabei: Jede Software, die wiederum Programmteile nutzt,
die unter der offenen Lizenz (der sogenannten "GNU Public
License" (GPL) ) stehen, muss zwingend auch unter dieser Lizenz
vertrieben werden, ist also wieder mit offenem Quellcode,
Modifikationserlaubnis und Verbreitungserlaubnis ausgestattet.
Cramer erklärt: "Das ist praktisch ein juristischer
Computer-Virus, ein Hack des Copyrights."

Modell: Freie Wissenschaft

Neben der Open-Source-Bewegung und den Bibliotheken bietet sich
ein weiteres Modell an: Das des Wissenschaftsbetriebs, in dem
nicht nur eine freie Zitierbarkeit herrscht sondern auch die
Patentfreiheit von Wissen:
Einstein hatte eben kein Patent auf die Relativitätstheorie und
kein Forscher musste ihm für die Nutzung seines Wissens
Lizenzgebühren entrichten.
Gerade Erkenntnisse und Ergebnisse, die unter staatlicher
Finanzierung entstünden, so Cramer, müssten eigentlich unter eine
Open-Content-Lizenz gestellt werden. Es sei nicht
nachvollziehbar, dass staatliche Bibliotheken Bücher ankauften,
deren Inhalte ebenfalls vom Staat finanziert worden seien.
Denkbar und sinnvoll sei es zum Beispiel, wenn
eine Forschergruppe ihre Ergebnisse lediglich in elektronischer
Form selbst publiziere und die Druckrechte komplett freigebe.
Gegen eine Verfälschung von Inhalten oder deren Manipulation gebe
es in den bereits vorliegenden Lizenzentwürfen für "Offene
Inhalte" entsprechende Klauseln, so dass eine Zensur
ausgeschlossen werden könne.
Gleiches gelte für die Produktionen des öffentlichen Rundfunks
oder Projekte, die von der deutschen Forschungsgemeinschaft
gefördert worden seien. Dass die Gesellschaft für diese Inhalte
ein zweites Mal bezahle sei schwer hinnehmbar. Cramers
persönliche Konsequenz: "Für mich ist es eine Frage der
wissenschaftlichen Ethik, dass ich meine Doktorarbeit
nach Fertigstellung unter einer Open-Content-Lizenz freigebe."
Am Schluss von Florian Cramers Vortrag stand der Appell: Ein
offener und freier Informationsfluss in einer demokratischen
Gesellschaft sei nur zu gewährleisten durch offengelegte,
unpatentierte Datenformate, lizenzfreie Verarbeitungs-Verfahren
und gemeinfreie Betriebssysteme und Programme.

Oliver Gassner (og)
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kontakt@carpe.com

Links:
http://opentheory.org - Open Theory  (dt.)
http://opencontent.org  - Open Content Lizenz (engl.)
http://www.linux.org - Linux Online (engl.)
http://everything2.org - Textcommunity (engl.)
http://nupedia.com - Offene Enzyklopädie (engl.)

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