Reinhold Grether on 27 Oct 2000 13:46:45 -0000 |
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[rohrpost] Methodologie der Netzwissenschaft |
___________________________ Methodologie der Netzwissenschaft Eine Glosse von Reinhold Grether http://www.netzwissenschaft.de/ ___________________________ Florian Cramer hat fuer die Kasseler Tagung "Aesthetik digitaler Literatur" dankenswerterweise seine Ueberlegungen zu "Kombinatorische(r) Dichtung und Computernetzliteratur" http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/aufsaetze/netzliteratur/kombinatorische_dichtung.html noch einmal praezisiert. Cramer pointiert: "Maschinell erstellte Rechnungen, Bankauszuege, Mahnbriefe, die Suchmaschinen und die "personalisierten" Portale und Versandhaus-Seiten im Netz zeigen, dass algorithmisch manipulierte Sprache subtil, aber wirkungsvoll in die Alltagskultur eingedrungen ist. Es erstaunt, dass nur wenige Netzliteratur diesen status quo reflektiert. Die Makroviren Melissa und I LOVE YOU, kleine, in Programmiersprache geschriebene Computertexte, sind deshalb vielleicht die interessanteste und dichteste Netzpoesie der letzten Jahre." Er kommt zum Schluss: "Man sollte sich also, so meine These, erst über die technische Poetik (und Poetologie) von Netzliteratur verständigen, dabei die Position des bloßen Beobachters auch gelegentlich verlassen, bevor man sich der Computernetzliteratur als aesthetischem Phaenomen naehert." Der Netzliteraturszene die Brisanz im Code codierter Politik vorzufuehren, war um so angebrachter als diese Tagung, zumindest fehlt jede Andeutung im Konferenzbericht Simonowskis in Telepolis, sich ausserstande sah, gegen den bislang groessten Skandal der deutschen Netzliteraturgeschichte ihre Stimme zu erheben. Die Politik des Code der Wochenzeitung DIE ZEIT besteht bekanntlich darin, das wichtigste Archiv der deutschsprachigen Netzliteratur, naemlich das der drei ZEIT-Internetliteraturwettbewerbe, im Zuge der Einfuehrung eines neuen Dateinamensystems vom Netz genommen zu haben. Waehlt man eine entsprechende Adresse wird man so begruesst: "Diese Seite ist nicht vorhanden. Durch die Erweiterung unseres Angebotes haben sich die Adressen vieler Seiten geändert. Wir bitten um Ihr Verständnis. www.zeit.de" Interessant, dass DIE ZEIT die Loeschung der Webadressen eines bedeutenden Kulturschatzes als "Erweiterung unseres Angebots" versteht. Man fragt sich, was als naechstes kommt. Wer unfaehig ist, Webadressen auf ein neues Dateiformat zu portieren, soll es eben lassen. Wer nach Monaten weder eine Entschuldigung noch einer Neuverlinkung zustande bringt, stellt sich bewusst in Traditionen deutscher Antikultur. Und eine Tagung, deren Gegenstand, die digitale Dichtung, der Datenvernichtung anheimfaellt, wird zum Mitlaeufer, erhebt sie keinen Einspruch. Ich schliesse mich also Cramers Postion einer radikalen Thematisierung der Poetik/Politik des Code an, solange sie nicht selbst einen normativen Netzliteraturbegriff formuliert. Als Netzwissenschaftler, der die Unterscheidung tech - desk - soz auf dem ersten deutschen Netzliteraturtreffen 1998 in Konstanz eingefuehrt hat, schlage ich folgende Methodologie der Netzwissenschaft vor: 1. Ein Gegenstand der Netzwissenschaft ist nur dann zureichend beschrieben, wenn das Zusammenspiel aller technisch codierter, ästhetisch symbolisierter und sozial applizierter Vernetzungsformen rekonstruiert ist. 2. Es ist demnach hilfreich, die Ebenen des Technischen, des Medialen und des Sozialen zunächst zu unterscheiden und deren Vernetzungsmatrizen getrennt zu untersuchen. 3. Vernetzungsmatrizen unterscheiden und beschreiben in Anspruch genommene und selbst entwickelte Vernetzungsformen. 4. Relevante Gegenstände der Netzwissenschaft setzen auf allen drei Ebenen auf vorgegebenen Vernetzungsformen auf, reartikulieren sie und schaffen neuen Vernetzungscode. 5. Jede produktiv angelegte Unterscheidung der drei Ebenen sieht sich ab einer bestimmten Beschreibungstiefe zu einer schrittweisen Revision der analytischen Trennungen gezwungen. 6. Zunächst treten re-entry-Phänomene auf. Man erkennt, daß die Unterscheidung tech-desk-soz sich nicht auf die jeweiligen Felder beschränken läßt. Auf allen drei Feldern lassen sich Wiedereinschreibungen der jeweils anderen Felder beobachten. Man entdeckt das Mediale und das Soziale im Technischen, das Technische und das Soziale im Medialen und das Technische und Mediale im Sozialen. 7. Das die Ebenen durchdringende Gegenspiel des Intertechnischen, Intermedialen und Intersozialen liefert den Einstieg in die Thematisierung des Zusammenspiels aller Vernetzungsformen. 8. Ist dieses zureichend beschrieben ist das entsprechende Netzphänomen netzwissenschaftlich rekonstruiert. ---------------------------------------------------------- # rohrpost -- deutschsprachige Mailingliste fuer Medien- und Netzkultur # Info: majordomo@mikrolisten.de; msg: info rohrpost # kommerzielle Verwertung nur mit Erlaubnis der AutorInnen # Entsubskribieren: majordomo@mikrolisten.de, msg: unsubscribe rohrpost # Kontakt: owner-rohrpost@mikrolisten.de -- http://www.mikro.org/rohrpost