Florian Cramer on Fri, 7 Feb 2003 17:25:04 +0100 (CET)


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Re: [rohrpost] Nachtrag zum bootlab


Am Sonntag, 02. Februar 2003 um 00:20:06 Uhr (+0100) schrieb Harald
Hillgärtner:

> Am Samstag, 1. Februar 2003 15:57 schrieb Florian Cramer:
> > Ähnlich wie Mercedes sehe ich hier die Gefahr eines Platonismus mit
> > umgekehrten Vorzeichen, in dem die Hardware Essenz ist und die Software
> > mit ihren Abstraktionsschichten verderbter Abglanz dieser Essenz.  Ein
> > Essentialismus, in dessen Falle meiner Meinung nach Kittler und seine
> > Schule geraten sind.
> 
> Na, ganz so plump ist der gute Kittler dann doch nicht. 

Ob plump, sei dahingestellt; mit dem Neuplatonismus hat er zumindest
keine Berührungsängste, wenn er (in seinem Aufsatz "Hardware, das
unbekannte Wesen) von Software als "Emanation" der Hardware spricht:

"Solch monströsen Ansprüchen gegenüber, die ja nicht zufällig einem Land
entstammen, dessen Computerhardware weiterhin die Weltstandards setzt,
ist vielleicht der Hinweis erlaubt, daß der Geist namens Software als
Emanation der Hardware selber entstanden ist."

Dies ist seine vermeintlich materialistische Gegenthese zu einem
Software-Idealismus, über den er im selben Aufsatz ironisch schreibt:

"Ein neuerliches Reich der Freiheit, auch als Software oder Vernetzung
bekannt, könnte den Deutschen Idealismus endlich implementieren."


Ich persönlich finde, daß Software weder Emanation von Hardware, noch
idealistische Überwindung von Materie ist, sondern daß hier eine
Scheinopposition sich dialektisch bestätigender Standpunkte aufgemacht
wird.  Kittlers Medien-Materialismus, der zuerst und vor allem ein
Vollzug seines an Foucault geschulten Programms der "Austreibung des
Geistes aus den Geisteswissenschaften" ist (so der Titel eines von
ihm im Jahr 1980 herausgegebenen Sammelbands), vollzieht exakt jene
Bewegung, die Jacques Derrida u.a. in "L'écriture et la différence" an
Nietzsche und Heidegger als Dilemma antimetaphyischer Denkbewegungen
analysiert: Die vermeintliche Zerstörung der Metaphysik kreiert nur
eine neue Metaphysik unter anderem Vorzeichen. Wenn der "Geist" durch
"Technik" (oder "Hardware") substituiert wird, ist dadurch wenig
gewonnen - außer den Provokationen, Sichtweisen und Aperçus, die Kittler
daraus immer wieder gewitzt und unterhaltsam zu ziehen vermag. Ohne
diesen - wie soll man ihn anders nennen? - ésprit, vulgo Geist aber ist
dieser Medien-Materialismus, so etwa in der "Kittler-Jugend", nicht
weniger dogmatisch und öde als ein fichtescher, schellingscher oder
hegelscher Idealismus aus zweiter oder dritter Hand.

Daß die Negation von Metaphysik wieder Metaphysik produziert, scheint
mir z.B. in Kittlers Aufsatz "Phänomenologie versus Medienwissenschaft"
evident zu sein, in dem es u.a. heißt, daß "technische Medien es fertig
[bringen], Sachverhalte in die Welt zu setzen, deren Hervorbringung
lange Zeit (aber nicht immer) als Vorrecht des Menschen gegolten hat".
Hier verbindet sich Medien-Materialismus (unter anderem) mit Foucaults
Kritik am Begriff des Subjekts, die ihrerseits existenzphilosophisch
unterfüttert ist. 

Für meinen Geschmack hat dieser Subjektpessimismus in Philosophien des
späten 20. Jahrhunderts ideologische und dogmatische Züge angenommen. Er
wird zudem fragwürdig, wenn, wie bei Kittler, sich die Vorstellung des
autonomen Subjekts nicht relativiert, sondern - wie es mir scheint -
einfach vom Menschen auf die Technik verlagert.

Nun ist ein Stück Hardware oder Software mitnichten eine autopoietische
Schöpfung (so, wie z.B. die Biologen und Systemtheoretiker Maturana
und Varela lange vor Luhmann Autopoiesis als Prinzip von Zellteilung
und Handlungsautonomie definiert haben), auch wenn Kittler dies
mit Hinweisen wie dem suggeriert, daß Chips heute nur noch mit der
Hilfe von Chips (wohlgemerkt: nur mit ihrer _Hilfe_!) konstruiert
werden können. Im Gegenteil ist jedes Stück Hardware und Software
eine kulturelle, menschliche Konstruktion, deren Struktur,
Programmiersprachen und -interfaces etc. mitnichten aus dem Material
transzendieren und einer inneren Selbstevidenz entspringen, sondern auf
Konstrukteure und Programmierer zurückgehen. Wie der Softwarekünstler
Adrian Ward [der vorgestern auch auf dem Softwarekunst-Panel im Berliner
Künstlerhaus Bethanien mitdiskutierte] am 7.5.2001 auf der Mailingliste
"rhizome" schrieb:

"I would rather suggest we should be thinking about embedding our own
creative subjectivity into automated systems, rather than naively trying
to get a robot to have its 'own' creative agenda. A lot of us do this
day in, day out. We call it programming." ~

> Wenn ich ihn richtig lese, dann geht es vielmehr darum, dass die
> User nicht systematisch von der Betriebssytemebene, oder Hardware,
> abgeschnitten, also entmündigt werden.

[Auch Betriebssysteme kritisiert Kittler in ihrer Eigenschaft
als Abstraktionen von der Hardware: "Ein Betriebssystem kennt
auf jeden Fall keinen Prozessor mehr, sondern ist neutral gegen
ihn, und das war es vorher noch nie.  Und auf diese Weise kann
man eben jeden beliebigen Prozessor auf jedem beliebigen anderen
emulieren, wie das schöne Wort lautet. Aber ich glaube nicht, daß
das die Zeitoptimierungswünsche der Produzenten erfüllt. Als Konzept
ist das da, daß man nichts mehr zerstört. Wenn es einigermaßen
leistungsfähig ist, das man das einfach mit einer Softwareschicht
überzieht, und deshalb unsichtbar macht, aber das scheint die reale
Zerstörung nicht ganz ersetzen zu können, dieses Emulationskonzept."
- im Interview mit Pit Schultz und Stefan Heidenreich (1993),
http://textz.gnutenberg.net/textz/kittler_friedrich_interview.txt]

Doch zurück zu Deiner These:

In der Tat kann man Kittler als Kritiker einer Entmündigung der Nutzer
lesen, auch seine Stellungnahmen freie Software (etwa während der ersten
Wizards of OS 1999) gehen in diese Richtung. Diese Implikation aber
bringt ihn in eine seltsame Allianz mit humanistischen Computerkritikern
wie Joseph Weizenbaum und erscheint mir inkonsistent zu seiner
diskurstheoretisch begründeten Anti-Subjektphilosophie und seinem
Spott über jene, "die an soziokulturelle Auswirkungen der Neuen Medien
glauben" (in "Hardware, das unbekannte Wesen).

Auch die gemeinsam mit Axel Roch unter dem Titel "Beam me up, Bill"
verfaßte Analyse von Windows 95 haut in diese Kerbe:

"Im Glücksfall merkt also gar niemand, was Microsofts Spezialisten
unter Leitung von David Cutler wozu und warum geschrieben haben. Die
bestbezahlten Programmierer der Welt arbeiten daran, daß andere Leute
Programme nicht schreiben, sondern nurmehr kaufen."

Exakt diesen Punkt diskutieren wir ja in dieser Diskussion.
[Allerdings, wie mir scheint, mit dem Konsens, daß die Lösung nicht
Assemblerprogrammierung heißt, sondern schlicht Programmierbarkeit
- egal auf welcher Abstraktionsebene.]



Von Friedrich Kittler zur Diskussion für und wider heutige GUIs:
 
> Wobei sich m.E. auch ein grafisches Frontend zu einem, oder mehreren
> Programmen, sich nach dieser Argumentation verstehen lässt. Als Beispiel etwa
> "cdrecord", dass sich unter Eingabe aller notwendigen Parameter aus einer
> Konsole heraus bedienen lässt (oder eben mithilfe selbstgeschriebener
> Skripte). Nimmt man aber eins der zahlreichen Frontends, so sind die
> Parameter in der Fläche aufbereitet (der GUI), also anklickbar, und ähnlich
> der Erstellung eines Skriptes in einem Editor als Kette von Befehlen und
> Parametern in dieser 'Anklick-Logik' zusammenstellbar. 

Ja, aber mit einem gravierenden Unterschied: Die heute üblichen
Frontends wie cdrecord, htmldoc, dvd:rip etc. emulieren bestenfalls
eine sequenzielle Abfolge von Befehlen, aber keine algorithmischen
Kontrollstrukturen wie Variablen, Schleifen und Bedingungen. Dies
leisten, auf GUI-Ebene, erst Oberflächen mit komplexerer graphischer
Syntax, wie sie z.B. die Musikkompositionsprogramme MAX und PD
bereitstellen. In diesen Systemen kann man sich tatsächlich Algorithmen
bzw. Software zusammenklicken, als Prototypen nicht-regressiver GUIs
scheinen sie mir deshalb brauchbar. (Obwohl es mir kein Zufall zu sein
scheint, daß man komplexe Zusammenhänge und logische Aussagen in
Schriftsprache mit ihrer Kombinatorik von 128 ASCII-Zeichen noch am
elegantesten und simpelsten ausdrücken kann.)

> Dies tangiert zwar nicht das Argument der "Turing-Vollständigkeit", aber
> unterschieden werden kann sicherlich zwischen der Programmierung und dem
> (alltäglichen) Arbeiten mit Programmen. Letzteres, das wäre mein Einspruch,
> wird durch die Verwendung von GUIs nicht regressiver.

Wenn ich einen durchschnittlichen Computernutzer über die Schulter sehe
und beobachte, wieviele repetitive Arbeitsschritte er oder sie täglich
ausführt, die man in anständigen Nutzerumgebungen trivial zu einer
einzigen Operation zusammenfassen könnte, habe ich da so meine Zweifel.

> Zumal das Arbeiten mit GUIs die parallele Verwendung von Shells ja nicht
> ausschließt.

Richtig. Aber außer in schönen, aber esoterischen Betriebssystemen wie
Plan 9 und LISP-Maschinen ist es nicht möglich, GUI-Anwendungen über die
Shell zu steuern bzw. in Skripte zu integrieren. Auch unter Unix-artigen
Betriebssystemen bleiben GUI-Anwendungen in sich gekapselte Black Boxes,
an die man nur [um diesen schönen deutschen Computer-Jargonausdruck zu
benutzen] händisch herankommt.

-F

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